Samstag, 28. Dezember 2013

Rücktrittsschreiben Thea Mauchle

Thea Mauchle ist als Zürcher Kantonsrätin zurückgetreten. Sie nutzte das Rücktrittsschreiben, welches im Rat vorgetragen wurde, um noch ein paar kritische Gedanken zu äussern:

Zürich, 10. Dezember 2013

Rücktrittsschreiben Thea Mauchle

Sehr geehrter Herr Präsident, geschätzte Kolleginnen und Kollegen

„Es langet“ – wäre die kürzeste Antwort auf die Frage, warum ich zurücktrete, aber ich hätte noch etwas mehr dazu sagen. Ich war 2000 bis 2005 im Verfassungsrat, und zwar in der Grundrechtskommission. 2003 durfte ich in den Kantonsrat nachrutschen und stellte mir anfänglich vor, dass nun die Umsetzung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wie am Schnürchen laufen werde. Doch zum Glück habe ich seit dem „Erwerb“ meiner Behinderung vor 24 Jahren vor allem eins gelernt: Geduld.

Für manche hier galt ich vielleicht als „Hinterbänklerin“, zumal ich ja nie in einer Kommission Einsitz hatte. Ich wusste natürlich, dass erst die Kommissionsarbeit das Amt so richtig interessant machen würde. Aber schon der Besuch der Ratssitzungen und Randveranstaltungen war für mich sehr aufwendig, da mein Alltag durch die Behinderung sowieso erheblich erschwert ist. Die Zugänglichkeit zu Gebäuden wie dem Rathaus, aber auch zu anderen Sitzungsräumen und Lokalen, in denen KantonsrätInnen zu verkehren pflegen, war äusserst mühsam, wenn nicht gar unmöglich. Im Ratssaal war ich praktisch an meinem Platz „festgenagelt“ und während Sie alle an mir vorbei ins Haus hinein- oder hinausspurteten, brauchte ich für diesen Weg ganze zehn Minuten, die Hälfte davon auf dem Aussenlift. Ich kam mir oft vor wie eine Schnecke, die sich für ein Hunderennen qualifiziert hat. Die Verhältnisse im Rathaus sind sinnbildlich für die Teilnahme am öffentlichen Leben von Menschen mit Behinderung. Trotz theoretisch gleicher Rechte und Diskriminierungsverboten gibt es immer noch unzählige Hindernisse. Meine seltenen Voten zu behindertenpolitischen Vorstössen waren deshalb meist anklagend, vielleicht gar larmoyant und kaum witzig, obwohl es mir an Humor wirklich nicht mangelt. Aber allzu oft müssen wir uns schöne Sonntagsreden anhören. Ich wünsche mir dennoch, dass Sie mich nach meinem Rücktritt nicht vergessen, wenn es um das Beseitigen von Hindernissen und um das Gewähren von Zugang geht.

Ausserhalb des Kantonsrates werde ich mich weiterhin in der Behindertenkonferenz engagieren und bin dankbar um alle Kontakte, die ich in diesem Sinne weiter pflegen darf. Sehr gerne werde ich und unser Team dort mit Rat und Tat zur Verfügung stehen in Fragen der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung im Kanton Zürich.

Was Sie vielleicht nicht so mitbekommen haben, weil ich diese Fahne im Kantonsrat kaum je geschwungen habe: Ich bin leidenschaftliche Lehrperson, seit einigen Jahren Berufsschullehrerin für Allgemeinbildung. Dorthin zieht es mich jetzt wieder mehr und ich freue mich darauf, mein Pensum wieder etwas aufzustocken.

Ihnen allen wünsche ich weiterhin viel Freude und Erfolg auf dem parlamentarischen Spielfeld!

Freundliche Grüsse  

Thea Mauchle

Freitag, 6. Dezember 2013

Parlament: Diverse Vorstösse zum 3. Dezember

Am 3. und 4. Dezember wurden in beiden Kammern diverse Vorstösse eingereicht:

Nationalrat
Interpellation "Auswirkungen der europäischen Normen im Rahmen der Bahnreform 2.2. für Menschen mit Behinderung und mobilitätsbeeinträchtigte Seniorinnen und Senioren", von Margret Kiener Nellen (SP/BE)

Text noch nicht verfügbar.

Fragestunde: "10 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz. Was tut der Bundesrat?", von Yvonne Gilli (Grüne/SG)

Eingereichter Text: "Am 1. Januar 2004 ist das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) in Kraft getreten. Auch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB nahm anfangs 2004 seine Tätigkeit auf. Das BehiG war eine wichtige Wegmarke und ein erster Schritt hin zu einer alle Behinderungsformen übergreifende Gleichstellungspolitik.
Wie gedenkt der Bundesrat im kommenden Jahr dem Jubiläum "10 Jahre BehiG" gebührend und der Bedeutung angemessen Rechnung zu tragen?"

Fragestunde: "BehiG-Umsetzungsfristen 2014 und 2024", von Margret Kiener Nellen (SP/BE)

Eingereichter Text: "Als Finanzhilfen aus dem Zahlungsrahmen des Behindertengleichstellungsgesetz BehiG stehen 300 Millionen Franken von 2004 bis 2023 zur Verfügung, 15 Millionen Franken pro Jahr. Nächstes Jahr läuft die erste Frist für die Anpassung der Kommunikationssysteme und Billette-Automaten ab. 2023 muss die Infrastruktur fit sein.
1. Wie stehen die Transportunternehmungen im Fahrplan der BehiG-Umsetzungsfristen 2014 und 2024?
2. Wie will der Bundesrat die Bahn- und Transportunternehmen dazu bringen, die Ziele zu erreichen?"

Ständerat
Motion "Unnötige IV-Renten vermeiden", von Alex Kuprecht (SVP/SZ)

Text noch nicht verfügbar.

Wir halten Sie auf dem Laufenden.

Montag, 4. November 2013

Tagung Patienten Forum 2013

Die Patientenkoalition Schweiz veranstaltet am 23. November 2013 eine Tagung zum Thema „Sparen auf dem Buckel von chronisch kranken und behinderten Menschen...?„. Zu Gast ist unter anderem Nationalrat Christian Lohr.

Link zur Veranstaltung auf facebook

Freitag, 25. Oktober 2013

Raffaele Pennacchio: Der Arzt, der an die Würde der Kranken glaubte

Raffaele Pennacchio (Bild: privates facebook-Profil
Sein letzter Tweet stammt vom 21. Oktober, dem Tag an dem die ALS-Betroffenen nach Rom aufbrachen, um an der vom "Komitee 16. November" (Comitato 16 Novembre Onlus) ausgerufenen Protestaktion teilzunehmen. Er hatte einen Artikel der Tageszeitung "l'Unione Sarda" gepostet, der von der Abreise einiger behinderter Sarden berichtete. Unter ihnen war auch Salvatore Usala, Generalsekretär des "Komitee 16. November" und selber ALS-Betroffener.

Raffaele Pennacchio, der Arzt, der gestern nach einem Treffen mit der Regierung 55-jährig verstarb, hatte selber ALS. Der aus Macerata in Kampanien stammende Mediziner glaubte fest an die Achtung der Würde des Patienten und an die Möglichkeit, schwer und schwerstkranken Menschen durch persönliche Assistenz ein Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen. Deshalb hatte er das Projekt "Restare a casà" (zu Hause bleiben) des Komitees 16. November vorbehaltlos und mit enormem persönlichem Kräfteeinsatz unterstützt.

"Morgen gehen wir nach Rom... Wir werden für ein paar Tage nichts voneinander hören...", lautete sein facebook-Update vom Sonntag. Pennacchio war pensionierter Arzt, verheiratet (seine Frau ist ebenfalls Medizinerin), zweifacher Vater, arbeitete bei der örtlichen Gesundheitsbehörde von Caserta und war Spezialist für besondere semiologische Verfahren in der Chirurgie.

Übersetzt aus dem Italienischen von David Siems / Quelle der Nachricht: Il Messaggero

Sonntag, 20. Oktober 2013

Behindert und verliebt - «Schweiz aktuell» inszeniert den Menschenzoo


TV-Kritik von Michael Furger 

Bettina und Claude sind verliebt. Sie küssen sich mit spitzem Mund, lesen gemeinsam den Wetterbericht in der Zeitung und cremen einander die Füsse ein. Das sehen wir in «Schweiz aktuell», das diese Woche als Themenschwerpunkt täglich aus einer Wohngruppe für geistig Behinderte sendete. Dort lebt das Liebespaar; Bettina und Claude haben das Down-Syndrom. Behindert und verliebt - das haben die Fernsehmacher schön hingekriegt. Auch der «Club» konnte am Dienstag seine Sendung dem Thema widmen.

Menschen mit Down-Syndrom sind beim Schweizer Fernsehen gern gesehene Akteure. Im Sommer 2012 strahlte es die Doku-Soap «Üsi Badi» aus. Behinderte arbeiteten in einer Badi. Das war so herzig und offenbar so erfolgreich, dass man diesen Sommer die Protagonisten in einen Tierpark stellte und es «Üse Zoo» nannte. Über die Behinderten-Theatergruppe Hora berichten «Dok», «10 vor 10», «Kulturplatz» und sogar «Glanz & Gloria».

Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in den Medien Beachtung finden. Das kann der Ausgrenzung entgegenwirken. Doch was die Serienmacher im Sommer und diese Woche in «Schweiz aktuell» inszenierten, geht in die andere und damit falsche Richtung. Man inszeniert den Menschenzoo. Das Paar auf dem Velo, das Paar im Restaurant, das Paar beim Schmusen. Es sieht nicht anders aus als bei anderen Liebespaaren. Weil die beiden behindert sind, wird eine Show daraus gemacht. Schaut mal her! Sind die nicht putzig. Dient das der Sache? Eher nicht.

Interessant ist, wie die Fernsehleute agieren. Die Aussenmoderatorin Sabine Dahinden stolpert unbeholfen durch die Wohngruppe und findet keinen Draht zu den an sich offenen Bewohnern. Wichtige Themen wie Sexualität umschifft sie. In den Gesprächen mit Experten fühlte sich die Moderatorin sichtlich wohler. Und im «Club» fand die Diskussion gleich ohne die Betroffenen statt. Die Fachleute blieben unter sich. Zur Unterhaltung sind Behinderte willkommen, aber so richtig für voll nimmt man sie dann doch nicht.

Erschienen in der NZZ am Sonntag vom 20. Oktober 2013

Siehe auch: Deine Bedürfnisse, meine Bedürfnisse

Dienstag, 15. Oktober 2013

Offener Brief an Urs Schwaller / Motion “Nachhaltige Sanierung der IV ist dringend notwendig”

Sehr geehrter Herr Schwaller

In Ihrer Ständerats-Motion zur IV-Sanierung vom 27. September diesen Jahres fordern Sie unter anderem eine Verbesserung der Betrugsbekämpfung, sowie Massnahmen zur Eingliederung insbesondere psychisch behinderter Menschen.

Als Betreiber der umfangreichsten Schweizer Nachrichtenplattform zum Thema Behinderung sind wir bestens über die Folgen der letzten beiden IV-Revisionen und des allgemeinen Spardruckes informiert. Unser Fazit:

Weiterlesen auf selbstbestimmung.ch

Mittwoch, 11. September 2013

Iowa stellt Blinden Waffenscheine aus

Niemand stellt die Legalität der Waffenscheine in Frage, aber einige Beamte sorgen sich um die öffentliche Sicherheit.

Eine Pistole mit rauchender Mündung (Bild: Charles Knowles, flickr)

Des Moines, Iowa, USA: Hier ist eine Nachricht, die Behördenmitglieder und Abgeordnete dazu bringt, sich am Kopf zu kratzen: Der US-Bundesstaat Iowa erlaubt es blinden Menschen, Waffen zu erwerben und diese in der Öffentlichkeit zu tragen. Niemand stellt die Legalität der Genehmigungen in Frage. Die Gesetze von Iowa verbieten es seinen Sheriffs, einem Einwohner das Recht auf Waffenbesitz aufgrund seiner physischen Fähigkeiten vorzuenthalten. Dieses Dilemma zielt direkt auf die öffentliche Sicherheit. Die Interessensvertreter behinderter Menschen und die Gesetzeshüter Iowas sind sich uneinig darüber, ob es für sehbehinderte Iowaner eine gute Idee ist, Waffen zu besitzen.

Auf der einen Seite sind da Menschen wie Cedar County Sheriff Warren Wethington, der für die Nachrichtenplattform "The Des Moines Register" demonstrierte, wie blinde Menschen den Gebrauch von Schusswaffen erlernen können. Und Jane Hudson, Geschäftsführerin von "Disability Rights Iowa", die sagt, dass es gegen den "Americans with a Disability Act (ADA)" verstossen würde, sehbehinderte Menschen vom Recht auf Waffenbesitz auszuschliessen. Dieses Bundesgesetz verbietet Ungleichbehandlungen aufgrund einer Behinderung.

Auf der anderen Seite: Menschen wie Dubuque County Sheriff Don Vrotsos, der sagt, er würde einer blinden Person keinen Waffenschein ausstellen.  Und Patrick CLancy, Direktor der "Iowa Braille and Sight Saving School", der sagt, dass Waffen eine der wenigen Ausnahmen in seiner Philosophie der vollständigen Teilhabe blinder Menschen darstellen.

Privater Waffenbesitz - sogar Jagdlizenzen - für sehbehinderte Menschen sind in Iowa nichts neues. Aber die Praxis, sehbehinderten Einwohnern das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit zu erlauben, wurde erst durch eine Änderung des Waffengesetzes im Jahr 2011 möglich. "Es wirkt etwas seltsam, aber so wie sich das Gesetz liest, können wir niemandem eine Genehmigung verweigern, nur aufgrund der Tatsache, dass er blind ist.", sagt Sergeant Jana Abens, eine Sprecherin des Sheriff Departements von Polk County.

Polk County-Beamte sagen, sie hätten Waffenscheine an mindestens drei Leute ausgestellt, die aufgrund einer Sehbehinderung nicht Autofahren dürfen und unfähig waren oder Schwierigkeiten hatten, die Antragsformulare auszufüllen. Und Sheriffs in drei weiteren Counties (Jasper, Kossuth und Delaware County) sagen, dass sie Waffenscheine an Einwohner ausgestellt haben von denen sie glauben, dass sie stark sehbehindert sind. "Ich bin kein Experte für Sehkraft.", sagt Delaware County Sheriff John LeClere, "Ab welchem Grad hat eine Sehbehinderung einen nachteiligen Effekt auf das Abfeuern einer Schusswaffe? Wenn man nichts als eine verschwommene Masse vor sich sieht, dann würde ich davon abraten, darauf zu schiessen."

Training für sehbehinderte Menschen

In einem County in Iowa werden blinde Waffenbesitzer voraussichtlich ein spezielles Training erhalten. Sheriff Wethington hat eine blinde Tochter, die einen Waffentragschein beantragen möchte wenn sie in zwei Jahren 21 wird. Er demonstrierte für "The Des Moines Register" wie er blinden Menschen die Handhabung von Schusswaffen beibringen möchte. "Wenn Sheriffs sich mehr darauf konzentrieren würden, Kriminelle statt behinderte Menschen zu entwaffnen, wäre ihre Zeit besser investiert.", sagt Wethington, während dem er und seine Tochter das Schiessen mit einer halbautomatischen Pistole auf einem Privatgrundstück im ländlichen Cedar County üben.

Die Anzahl sehbehinderter oder blinder Iowaner, die die Erlaubnis zum Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit besitzen ist unbekannt, weil diese Information weder vom Staat, noch von den County Sheriffs, die die Genehmigungen erteilen, erhoben wird.

Clancy, Direktor der "Iowa Braille and Sight Saving School", sagt, dass die Sichtweite von Menschen die rechtlich als blind gelten, stark variiert. Er glaubt, dass es Fälle gibt, in denen Antragssteller sicher mit Schusswaffen umgehen können. Dennoch äussert er Bedenken: "Obwohl blinde Menschen an fast allen Lebenserfahrungen teilhaben können, gibt es Dinge wie die Handhabung von Waffen, die womöglich eine Aussnahme bilden."

Der "Gun Control Act" von 1968 und andere Bundesgesetze schliessen blinde Menschen vom Recht auf Waffenbesitz nicht aus. Aber anders als Iowa haben einige Bundesstaaten Gesetze, die genau ausführen, ob sehbehinderte Personen Waffenscheine beziehen können. Anforderungen an die Sehkraft sind direkt oder indirekt Teil der Bewilligungskriterien für Waffenscheine in einigen umliegenden Staaten. So müssen beispielsweise Antragssteller in Nebraska einen Beweis ihrer Sehkraft erbringen, in dem sie entweder einen gültigen Führerschein oder ein Zeugnis eines Augenarztes vorweisen, wenn sie eine versteckte Pistole tragen möchten.

Andere Bundesstaaten haben indirekte Voraussetzungen, die blinden Menschen den Zugang zu einer Genehmigung versperren können - aber nicht müssen. Das trifft unter anderem auf Missouri und Minnesota zu, wo Antragssteller eine Schiessübung absolvieren müssen, in der sie auf ein Ziel schiessen und es treffen müssen. Eine 50-Staaten Datenbank für Waffenschein-Voraussetzungen, welche von USACarry.com publiziert wurde, zeigt, dass in South Carolina ein Gesetz einen Beweis der Sehkraft verlangt, bevor eine Person für einen Waffenschein zugelassen wird.

Hingegen besitzt Wisconsin wie Iowa keine Einschränkungen für sehbehinderte Antragssteller. In Illinois wurde im Juli ein Gesetz über das versteckte Tragen von Waffen verabschiedet, aber es wurden bislang noch keine Genehmigungen ausgestellt. Die Voraussetzungen in Illinois verlangen keinen eigentlichen Sehtest, aber Antragssteller müssen ein Schusswaffentraining abschliessen.

Die "National Federation of the Blind" verfolgt die Bewilligungspraxis der Bundesstaaten nicht und hat bislang keine offizielle Stellungnahme zu diesem Thema abgegeben. Aber laut Chris Danielsen, dem Pressesprecher der Organisation, sind ihre Mitglieder im Allgemeinen gegen Restriktionen wie Sehtests: "Es gibt keinen Grund einer Person einzig und allein aufgrund ihrer Sehbehinderung das Tragen einer Schusswaffe zu verweigern. Vermutlich verfügen sie über den gesunden Menschenverstand, die Schusswaffe nicht zu gebrauchen, wenn sie dadurch andere Menschen in Gefahr bringen könnten, so wie wir das ja auch von anderen (sehenden) Waffenbesitzern erwarten."

Iowa verlangt ein Training für jeden, der im Begriff ist, eine Genehmigung für das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit zu erhalten. Aber diese Voraussetzung kann durch das absolvieren eines Online-Kurses erfüllt werden, welcher weder eine praktische Unterweisung, noch eine Schiessübung umfasst.

Eine Klausel im Waffengesetz von Iowa erlaubt es den Sheriffs, die Erteilung einer Genehmigung zu verweigern, wenn es Grund zur Annahme gibt, dass der Antragssteller sich oder andere mit der Waffe gefährden könnte. Viele Sheriffs stellten jedoch fest, dass sich die Klausel auf konkretes, dokumentiertes Verhalten bezieht und sehbehinderte Antragssteller, die gegen den Entscheid Berufung einlegen würden, vor Gericht höchst wahrscheinlich gewinnen würden.

Hudson, die Geschäftsführerin von "Disability Rights Iowa", glaubt, dass eine Änderung des staatlichen Waffengesetzes, welche blinde Menschen oder Menschen mit anderen Körperbehinderungen vom Waffenbesitz ausschliesst, gegen Bundesgesetze verstossen würde. Der "Americans with a Disability Act" schreibt öffentlichen Stellen vor, eine individuelle Überprüfung durchzuführen, um einen Fall angemessen beurteilen zu können, bevor sie einen Service verweigern. Hudson glaubt, dass man die Einschränkungen in Nebraska erfolgreich gerichtlich anfechten könnte. "Die Tatsache, dass jemand kein Auto fahren kann bedeutet nicht automatisch, dass er nicht auf einen Schiessplatz gehen und ein Ziel sehen kann.", sagt Hudson.

Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: USA Today

Montag, 2. September 2013

«Diese Trends sind für die Sozialhilfe alarmierend»

Sozialämter beobachten mit Sorge eine Verlagerung der Kosten von der IV zur Sozialhilfe.

Mit Felix Wolffers (Leiter des Sozialamtes der Stadt Bern) sprach Markus Brotschi, Bern

Die Invalidenversicherung (IV) verfolgt seit 2008 den Grundsatz «Eingliederung vor Rente». Mit der 5. IV-Revision erhielt sie neue Instrumente zur beruflichen Integration. Gleichzeitig wurde die Rentenpraxis verschärft, um die IV aus den roten Zahlen zu bringen. Allerdings mehren sich Berichte, wonach sich für IV-Rentner trotzdem kaum Stellen finden lassen (TA vom 17.8.). Gleichzeitig bestreitet die IV, dass die strengere Rentenpraxis gesundheitlich angeschlagene Menschen vermehrt in die Sozialhilfe führt. Genau dies beobachten aber Sozialämter: So verweist der Leiter des Sozialamts Bern darauf, dass immer mehr Behinderte in der Sozialhilfe hängen bleiben. Anzeichen für diese Entwicklung haben auch die Sozialdienste von Luzern, Basel-Stadt oder die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos).

Die IV hat von 2003 bis 2012 die Zahl der Neurenten fast halbiert. Ermöglicht hätten dies die neuen Eingliederungsmassnahmen. Stimmt das aus Sicht Ihres Sozialamtes?

Die Anzahl der Menschen mit einer Behinderung hat sich in dieser Zeit sicher nicht halbiert. Viele leiden nach wie vor an einer Behinderung. Sie erhalten aber keine Rente mehr und landen irgendwann bei der Sozialhilfe, wenn sie nicht ein grosses Vermögen haben oder von der Familie finanziell unterstützt werden. Weniger Renten bei der IV wären kein Problem, wenn auch Menschen mit einer Behinderung in der Wirtschaft eine Stelle finden würden. Dies ist aber nur in wenigen Fällen so. Leider erstellt die IV keine Statistik, die aufzeigt, wie oft Eingliederungsmassnahmen zum beruflichen Wiedereinstieg führen.

Haben Sie denn Belege dafür, dass die IV Menschen zur Sozialhilfe abschiebt?

Eine Zahl, die diese Tendenz aufzeigt, ist die Höhe der Rückerstattungen von bevorschussten IV-Leistungen. Während ein IV-Verfahren läuft, bezahlt die Sozialhilfe den Lebensunterhalt für jene, die über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen. Spricht die IV dann eine Rente, erstattet sie der Sozialhilfe die Vorschüsse zurück. Diese Rückerstattungen haben sich beim Sozialamt der Stadt Bern von 2007 bis 2010 fast halbiert, von 6,6 auf 3,6 Millionen Franken. Das deutet klar auf eine abnehmende Zahl von IV-Renten hin und darauf, dass mehr Menschen von der Sozialhilfe unterstützt werden müssen. Weil die IV-Verfahren sehr oft jahrelang dauern, werden die Effekte der verschärften Rentenpraxis erst in einigen Jahren noch deutlicher sichtbar. Heute erkennen wir erst Trends, aber diese sind für die Sozialhilfe alarmierend.

Das massiv ausgebaute Instrumentarium der IV zur Wiedereingliederung wird doch nicht völlig erfolglos sein.

Der Ausbau dieser Massnahmen führt vor allem dazu, dass jemand trotz Behinderung seine bisherige Stelle behalten kann – das ist sehr erfreulich. Wer aber die Stelle verloren hat, profitiert kaum. Eine von der IV in Auftrag gegebene Studie kommt zum Schluss, dass die 5. IVRevision bei Stellenlosen keinen positiven Effekt hat. Der Prozentsatz erfolgreich in den Arbeitsmarkt vermittelter Personen hat sich trotz der vielen Integrationsmassnahmen nicht erhöht. Behinderte ohne Stelle finden oft nicht mehr aus der Sozialhilfe heraus: In der Wirtschaft finden sie wegen ihrer Behinderung keine Arbeit, eine IV-Rente erhalten sie aber nicht mehr. Deshalb verzeichnen wir in der Sozialhilfe immer mehr Langzeitfälle – eine Entwicklung, die alle Städte feststellen.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)bestreitet, dass IV-Rentner vermehrt bei der Sozialhilfe landen.

Das Bundesamt beruft sich auf sein eigenes Monitoring, das die Wechselwirkungen zwischen Sozialhilfe, IV und Arbeitslosenversicherung aufzeigen soll. Beim genauen Lesen der Studie zeigt sich, dass diese die These vom Abschieben bisheriger IV-Fälle in die Sozialhilfe bestätigt. Weil die IV-Verfahren meist sehr lange dauern, verarmen viele während dieser Zeit und müssen von der Sozialhilfe unterstützt werden. 2007 hat die Sozialhilfe 4600 Personen unterstützt, die später eine IV-Rente erhalten haben. 2011 erhielten nur noch 4000 Personen aus der Sozialhilfe eine IV-Rente. Das zeigt, dass die IV-Praxis sich deutlich verschärft hat und viele behinderte Personen in der Sozialhilfe verbleiben.

Warum funktioniert aus Ihrer Sicht die Integration schlecht?

Die Verschärfung der IV-Praxis betrifft vor allem Menschen mit Schmerzsymptomen und medizinisch nur schwer fassbaren psychosomatischen Krankheiten. Bei diesen Menschen sind Eingliederungsmassnahmen sehr aufwendig und kaum erfolgreich. Sie sind heute faktisch von der IV ausgeschlossen, und die Sozialhilfe muss ihre soziale Sicherung übernehmen. Es handelt sich dabei sehr oft um Menschen ohne Berufsabschluss, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich verringert. Die Sozialhilfe muss in diesen Fällen oft während Jahrzehnten Unterstützungsleistungen ausrichten.

Die IV will bis 2017 rund 17000 Renten annullieren, um die Sparvorgaben zu erreichen. Davon sind vor allem Schmerzpatienten betroffen. Rechnen Sie damit, dass auch diese bei der Sozialhilfe landen?

Wer nach jahrelanger Absenz vom Arbeitsmarkt die IV-Rente verliert, wird nur schwer wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Wie sich die Aufhebung bestehender Renten mittelfristig auf die Sozialhilfe auswirkt, kann ich nicht voraussagen. Klar ist aber: Die IV verfolgt mit der Rentenüberprüfung ein grosses Sparziel. Wenn sie weniger Renten ausrichtet und es nicht gelingt, für die Betroffenen eine Stelle zu finden, muss am Schluss erneut die Sozialhilfe einspringen. Problematisch an dieser Entwicklung ist, dass so Kosten auf die Kantone und Gemeinden abgewälzt werden, welche die Sozialhilfe finanzieren.

Erschienen im Tages-Anzeiger vom 31. August 2013

Samstag, 24. August 2013

Das Chaos in Kopf und Wohnung

MESSIE Von übermässiger Sammelwut bis zur Verwahrlosung reicht das Spektrum des Vermüllungssyndroms. Dem Chaos in der Wohnung steht ein Chaos im Kopf gegenüber. Wegwerfen fällt schwer, denn es steht für Trennungsängste und Aufgeben.

Gabriele Spiller «Wie innen, so aussen», sagte schon Paracelsus. Und in der Seele eines echten Messies sieht es meist konfus aus . Denn das unbändige Sammeln von Zeitschriften, die man noch lesen wird, oder von Kleidung, die irgendwann mal wieder passt, kann auf unverarbeitete Verletzungen hinweisen. Mit der Aufforderung, die unnützen Sachen endlich wegzuschmeissen, gerät der «Ratgeber» schnell in einen Streit. Der Versuch, selbst Ordnung im Haus zu schaffen, löst Panik und Abwehr aus . Der Psychiater Peter Dettmering dokumentierte bereits in den 1960er Jahr en seine Beobachtungen in Haushalten, in die er von der Fürsorge gerufen wurde , wenn eine Wohnsituation eskalierte. Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, teilweise offensichtlich verwirrt, andere anscheinend psychisch gesund, lebten in völlig zugemüllten Behausungen. Manche besassen ihre eigene Systematik, andere hatten den Überblick längst verloren. Einige litten an Zwangsstörungen, andere verwahrlosten aufgrund einer Alzheimer - Erkrankung. Doch bald stellte er fest: Es gibt einen Zusammenhang zwischen nicht erfolgter Trauer- und Trennungsarbeit und der Fähigkeit, Überflüssiges aussortieren zu können. Denn solange die Objekte sich noch im persönlichen Umfeld befinden, lebt der Betroffene in der Hoffnung, irgendwann aus eigener Kraft zu einer inneren und äusseren Ordnung zu gelangen.

Wohnung ist die Mutter

Neu ist das öffentliche Bekenntnis, ein Messie zu sein. Das englische «mess» steht für Unordnung oder Durcheinander. In Fernsehsendungen und Selbsthilfegruppen geben sich nun Betroffene zu erkennen. Sie suchen Verständnis und Anerkennung ihres Leidens und entlasten sich somit psychisch. Einen Gesinnungswandel hat das jedoch nicht automatisch zur Folge. Denn die Ursachen sind in der Regel im frühesten Kindesalter zu suchen. Spätere traumatische Erlebnisse , wie Todesfälle und Scheidungen, können das bisherige Lebenskonstrukt zum Kippen bringen. Nicht wenige Psychologen kritisier en den verniedlichenden Begriff Messie . Hinter den meisten Fällen stecke eigentlich eine depressive Erkrankung. Dettmering vergleicht die Beziehung eines Menschen zu seiner Wohnung mit der zur (frühen) Mutter, die für die Ausscheidungen des Babys verantwortlich war. Der vermüllte Patient hat die Entsorgungsfunktion nicht in die eigene Regie übernommen, argumentiert der Psychiater – oder sie ist ihm wieder entglitten.

Ständig verspätet

Der Strukturmangel im eigenen Leben kann sich aber auch in chronischer Unpünktlichkeit manifestieren. Zeit-Messies vergessen Termine, bürden sich zu viel Arbeit auf – dabei möchten sie doch möglichst alles perfekt machen. Um ihren Fehler zu kompensieren, bleiben sie dafür länger oder nehmen noch eine weitere Aufgabe an. Wissenschaftler sehen im Messietum auch ein gesellschaftliches Phänomen. Wie bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS gehen sie davon aus, dass die Betroffenen aus der Reizüberflutung nicht die relevanten Informationen filtern können und überfordert sind. Auch hier werden Entwicklungsstörungen und Existenzängste aus der Kindheit als mögliche Ursache angeführt.

Scham und Hilferuf

Im Alltag sind Menschen mit Vermüllungssyndrom durchaus ins Berufsleben integriert und pflegen soziale Kontakte . Nur die Wohnung ist Tabuzone . Wird man überraschenderweise hineingebeten, kann das als Hilferuf verstanden werden, der aber auch überfordern kann. Ein zugemüllter Haushalt ist das Ergebnis einer länger en Entwicklung und komplexer Zusammenhänge. Sie schreien nach professioneller Hilfe . Nur mit dem (schmerzhaften) Ausmisten ist es nicht getan. Sonst haben sich die Räume nach kürzester Zeit wieder angefüllt und kehren den inneren Müll nach aussen.

Hier gibt es Hilfe

Der Verlag Dietmar Klotz hat mehrere Titel zum Thema im Programm: «Das Vermüllungssyndrom» von Dettmering und Pastenaci ist eine ältere, wegweisende wissenschaftliche Abhandlung. Barbara Lath, eine Einsatzleiterin der Caritas, publizierte dort für professionelle Helfer den «Leitfaden für den Umgang mit Chaoswohnungen» . Mit dem «Messie-Handbuch» bietet Eva S. Roth eine selbstkritische, augenzwinkernde Gebrauchsanweisung für Betroffene, die methodisch jedoch an der Oberfläche bleibt. Im Klett-Cotta Verlag ist in der Reihe «Leben Lernen» mit «Messies – Sucht und Zwang» von Rainer Rehberger ein fundiertes Werk über die Psychodynamik und Behandlung bei Messie-Syndrom und Zwangsstörung erschienen. Es empfiehlt sich Beratern und psychologisch Interessierten mit Grundkenntnissen. In Zürich vermittelt das Selbsthilfezentrum der Stiftung Pro Offene Türen der Schweiz Selbsthilfegruppen in der Region. Das Beratungstelefon ist unter der Woche von 10 bis 12.30 Uhr und von 13.30 bis 16 Uhr besetzt (ausser Freitagnachmit- tag): Telefon 043 288 88 88. Weitere Informationen gibt es unter www.selbsthilfecenter.ch.

Erschienen im Glattaler vom Freitag, 23. August 2013

Freitag, 16. August 2013

Fehlende Hilfe für arbeitswillige IV-Bezüger (Quelle: Anzeiger von Uster)

Die Suche nach Arbeit in der freien Wirtschaft ist schwierig. Für sozial Schwächere ganz besonders.

Nach langer Suche und zahlreichen Bewerbungen für eine Stelle als Schreinerpraktiker in der ersten Arbeitswelt gestand sich unser Sohn ein, dass es praktisch unmöglich ist, auf diesem Weg eine geeignete Stelle zu finden. Mit dem Stempel der IV auf der Stirn würde das nichts werden mit einem selbständigen Leben.

Papierkrieg

Er ist zwar nicht arbeitslos, sondern er arbeitet in einer geschützten Werkstatt, was ihm grundsätzlich gefällt. Aber er sucht eine Chance, um weiterzukommen. Motiviert und pünktlich wandte er sich vertrauensvoll an das RAV Wetzikon, wie ihm vom IIZ Netzwerk Zürich empfohlen worden war. Das IIZ ist zuständig für die Integration und Wiedereingliederung von Arbeitssuchenden.

Ich begleitete meinen Sohn zum RAV und war gespannt, welche Möglichkeiten uns geboten würden. Am Schalter angekommen, wurden alle Dokumente verlangt. Auf die Frage, wo denn die Kündigung der letzten Stelle sei, erklärten wir die Sachlage: von der Arbeit im geschützten Rahmen, von der gesuchten Stelle im ersten Arbeitsmarkt und davon, dass wir auf Empfehlung des IIZ gekommen seien.

Ab diesem Punkt wurde es bürokratisch. Formular hier, Kopien da, von Schalter zu Schalter. Mein Sohn erhielt dann endlich einen Beratungstermin für den Freitag der gleichen Woche.

Nicht arbeitslos - keine Hilfe

In freudiger Erwartung nahm er diesen Termin dann wahr. Er wurde bitter enttäuscht! Das Gespräch dauerte gerade mal drei Minuten. "Guten Tag, leider können wir Ihnen nicht helfen, denn Sie sind nicht arbeitslos, und somit gehören Sie nicht in unsere Kartei!

Ich sehe Sie nicht in der freien Wirtschaft, bleiben Sie betreut und erhalten IV! Auf Wiedersehen. Brief und Stemple werden Sie in separater Post erhalten."

Wir kämpfen weiter und sind überzeugt, dass unser Sohn eine Chance in der ersten Arbeitswelt erhalten wird. Früher oder später!

Ivo Bachmann, Dürnten (Veröffentlicht als Leserbrief im Anzeiger von Uster vom Mittwoch, 14. August 2013)

Dienstag, 2. Juli 2013

Dickere Wände sind ein Fortschritt, aber keine Selbstbestimmung

Im äussersten Norden der Stadt Bern bildet die Aare eine riesige, verschlungene Schlaufe. Das Quartier, das sie dabei fast umschliesst, heisst Felsenau. Hier in Felsenau, auf einem Hügel am Waldrand gelegen, befindet sich die Stiftung Rossfeld. Sie betreibt unter anderem ein Schulheim, eine eigene KV-Berufsschule mit Internat, ein Wohnheim für Erwachsene und ein Bürozentrum mit geschützten Arbeitsplätzen. Im Prinzip deckt diese riesige Einrichtung fast alle Lebensbereiche ab, sodass man theoretisch die 60-jährige Zeitspanne vom Kindergarten bis zur Pensionierung dort verbringen könnte, ohne gross mit der Aussenwelt in Kontakt zu kommen. Das kann man praktisch finden. Mich lässt diese Vorstellung zusammenzucken.

Fällt da schwarzer Schnee vom Himmel?

Umso überraschter war ich, als ich von einem Workshop des Rossfeldes mit dem Titel "Stiftung Rossfeld baut für die Zukunft - selbständiges Wohnen mit Service in nächster Nähe / Einzigartiges, visionäres Projekt in der Region" erfuhr.

Nun muss man dazu sagen, dass heute viele behinderte Personen ohne oder mit geringem Pflegebedarf trotzdem im Heim leben müssen, weil es einfach nicht genug barrierefreie, bezahlbare Wohnungen gibt. Die Heime profitieren faktisch von diesem Notstand, da ein kaum pflegebedürftiger Heimbewohner viel rentabler ist, als jemand, der tatsächlich auf die Heiminfrastruktur angewiesen wäre. Für diese "teuren" Personen mit hohem Pflegebedarf ist dann dafür kein Platz mehr da. Ihre Notsituation wird dann wiederum dafür benutzt, Politiker für den Ausbau der Heimangebote zu gewinnen - die dann natürlich auch wieder zu einem grossen Teil von Leuten in Anspruch genommen werden, denen man mit Massnahmen, die den Wohnungsmarkt entspannen, viel besser und kostengünstiger helfen könnte.

Wenn ein Heim normale Wohnungen für behinderte Personen anbietet, konkurrenziert es damit also indirekt sein eigentliches Kerngeschäft. Deshalb schien mir ein solches Projekt gerade für eine so allumfassende Institution wie das Rossfeld absolut erstaunlich und ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, an diesem Workshop teilzunehmen.

Ein Workshop oder eine Werbeveranstaltung?

Der Workshop fand in einer Turnhalle statt. Es gab einige Tischinseln, an denen Heimbewohner, Ehemalige und jeweils ein Mitglied der Baukommission sassen. weiter vorne gab es dann eine Leinwand mit Rednerpult. Dort wurde das Projekt von Heimdirektorin Edith Bieri vorgestellt. Anschliessend wurde einige Minuten an den Tischen diskutiert und das jeweilige Mitglied der Baukommission fasste dann die Ergebnisse seines Tisches für die Halle zusammen.

Wie sich herausstellte, war die Projektphase eigentlich bereits abgeschlossen. Man wollte ein nicht mehr benötigtes Mitarbeitergebäude direkt vor dem Hauptgebäude abreissen und dort einen Wohnkomplex mit Ein-, Zwei- und Dreizimmerwohnungen hochziehen. Die Pläne für diesen Komplex lagen bereits auf dem Tisch und es gab sogar schon 3D-Modelle. Der Spielraum für Änderungswünsche war zu diesem Zeitpunkt also bereits sehr begrenzt.

Zu den "innovativen" Punkten des Projektes:
  1. Der wohl wichtigste Punkt: Mieter dieser Wohnungen sollen selber entscheiden können, ob sie die Dienste der Stiftung (Pflege, Therapien etc.) in Anspruch nehmen wollen oder nicht.
  2. Die Einzimmerwohnungen sollen mit 25 Quadratmetern (Zweizimmerwohnungen: 50 Quadratmeter, Dreizimmerwohnungen: 75 Quadratmeter) etwas grösser werden, als die Heimzimmer.
  3. Jede Wohnung soll eine eigene Kochecke und ein Badzimmer bekommen.
  4. Die Wände sollen dicker und damit weniger schalldurchlässig sein.
Zu Punkt eins möchte ich nochmal daran erinnern, dass das Rossfeld auf einem Hügel im äussersten Norden der Stadt liegt und sich die nächste öV-Haltestelle über einen halben Kilometer weit weg befindet. Ein zukünftiger Mieter wäre also auf jeden Fall auf den öV angewiesen und darauf, dass er den Höhenunterschied zwischen Haltestelle und Wohnkomplex auch bei Glatteis überwinden kann. Wie mir eine ehemalige Bewohnerin erklärte, sei das mit einem guten Elektrorollstuhl oder einem Swisstrac durchaus zu schaffen, aber mit einem Handrolli oder zu Fuss könne man es vergessen. Da sich das Rossfeld mehrheitlich an eine gehbehinderte Zielgruppe richtet, dürften also die meisten zukünftigen Bewohner durch die Umstände praktisch dazu gezwungen sein so weit wie möglich auf die Rossfeld-Dienste zurückzugreifen. Die grössere Unabhängigkeit und Selbstbestimmung - Kernargumente des Projektes - sind also reine Theorie. Die ungeeignete Lage sichert dem Rossfeld auch weiterhin ein faktisches Monopol.

Kurz und gut: Was uns Frau Bieri da präsentierte, war ein etwas "artgerechteres" Heim. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Viel Kritik und ein konstruktiver Vorschlag

Ich erklärte einem der Architekten, der die Baukommission an unserem Tisch vertrat, meine Bedenken und den Hintergrund mit der Wohnungsnot der Gehbehinderten. Das schien ihn nicht besonders zu interessieren, was durchaus verständlich ist. Wenn eigentlich schon alle Entscheidungen getroffen wurden, möchte man sein Projekt nicht komplett über den Haufen werfen und wieder bei null anfangen. Dementsprechend verschwieg er dann auch meinen Beitrag, als er die Diskussion am Tisch für die Halle zusammenfasste.

Zu meinem Erstaunen kam dann aber von allen anderen Tischen sehr viel Kritik am Projekt, unter anderem an der Nähe zum Heim, den fehlenden Balkonen und der Höhe des Mietzinses. Der letzte Tisch regte schliesslich an, dass man doch das Landstück mit dem alten Mitarbeitergebäude veräussern solle, um mit diesem Geld zentraler gelegenes Land kaufen und dort etwas bauen zu können.

Obwohl man deutlich spüren konnte, dass die Veranstaltung nicht so abgelaufen war, wie man sich das von Seiten der Verantwortlichen erhofft hatte, reagierte Frau Bieri recht diplomatisch auf die diversen Einwände. Ich witterte meine Chance und meldete mich direkt - was ja eigentlich nicht vorgesehen gewesen wäre. So erklärte ich dann in einer Turnhalle voller Heimbewohner kurz das Assistenzmodell und warum dennoch viele Menschen unnötigerweise ins Heim ziehen müssen. Ich lobte die Idee des letzten Tisches, führte etwas näher aus, wie man sie ausgestalten könnte und schloss mit dem Hinweis darauf, dass Bern mit seinem barrierefreien öV ja ein toller Wohnort für behinderte Menschen sei und somit ein idealer Standort für ein solches "Pionierprojekt" wäre. "Ja, Sie haben sich offensichtlich näher mit dem Thema auseinandergesetzt.", war die Antwort der Heimdirektorin. Dann war die Diskussion beendet und es gab Sandwiches.

Fazit

Trotz aller Kritik muss man anerkennen, dass die Rossfeldleitung sich bei der Planung des Wohnkomplexes ein paar Gedanken gemacht hat, die im Ansatz absolut richtig sind und den Bedürfnissen der Bewohner entgegenkommen. Man hätte einfach noch viel weitergehen und sich von gewohnten Denkmustern distanzieren müssen. Auch die Tatsache, dass in der Baukommission neben den Architekten und Mitgliedern der Heimführung immerhin ein Betroffener dabei war, ist ein Pluspunkt. Und auch wenn man den Workshop erst nach der eigentlichen Planung veranstaltete, was ihn eher zu einer Werbeveranstaltung für potentielle Mieter machte, ist es für diese Art von Einrichtung doch immer noch ungewöhnlich, Betroffene überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Immerhin hat die Rossfeldführung dadurch zur Kenntnis nehmen müssen, dass das, was sie für richtig halten, nicht unbedingt das ist, was ihre Zielgruppe möchte. Womöglich führt das ja langfristig zu einem Umdenken in der Stiftungsführung.

Dass man den Vorschlag mit dem Landabtausch tatsächlich umsetzt, halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Aber wer weiss: Wunder sollen ja hin und wieder passieren. Irgendwann kommt womöglich ein privater Investor auf die Idee, kleine Wohnungen zum maximalen EL-Beitrag an IV-Rentner zu vermieten, womit sich ja gutes Geld machen liesse. So gesehen wäre es aus Sicht der Heime dann doch klüger, diesen Markt selber zu bearbeiten, damit man diese kostengünstigen Bewohner nicht ganz verliert.

Montag, 10. Juni 2013

Zentrum für Selbstbestimmtes Leben: "Wir sind toll"

Im aktuellen Jahresbericht spart ZSL-Geschäftsführer Peter Wehrli nicht mit Eigenlob: Die meisten Ziele seien grundsätzlich erreicht, die "Revolution" habe man gewonnen. Es gehe nur noch um die Feinarbeit, für die es keine leidenschaftlichen Kämpfer, sondern pragmatische Dienstleister brauche.

Mit keinem Wort erwähnt werden hingegen die Folgeschäden zweier verheerender IV-Revisionen und der nun schon seit 10 Jahren andauernden Hetzkampagne gegen vermeintliche IV-Betrüger: Die Stigmatisierung Behinderter (insbesondere der psychisch Behinderten und Schmerzpatienten) ist heute viel extremer als noch in den 90er Jahren. Pöbeleien und Übergriffe selbst gegenüber sichtbar eingeschränkten Menschen haben zugenommen.

Viele behinderte Menschen leben heute von der Sozialhilfe oder sind vermehrt auf Ergänzungsleistungen angewiesen, weil sie von der Invalidenversicherung als "integriert" abgestempelt werden, obwohl es für sie kaum Arbeitsplätze gibt. Und in diesem Augenblick läuft gerade eine Kampagne an, die darauf abzielt die Sozialhilfe, diesen letzten Faden an dem die Existenz so vieler behinderter Menschen nun hängt, auch noch zu kappen.

Und als sei das alles nicht schon schlimm genug, haben wir mit Kat Kankas Rückzug aus der Politik und dem Tod von Aiha Zemp in den letzten Jahren gleich zwei der engagiertesten und fähigsten Kämpferinnen für die Sache der behinderten Menschen verloren.

Aber anstatt die Bemühungen des in den letzten Jahren stark geschrumpften ZSL-Team's auf diese Probleme und die Rekrutierung einer neuen Generation politisch engagierter Aktivisten zu fokussieren, wartet Peter Wehrli wenige Jahre vor seiner Pensionierung mit einer nicht gerade subtilen Kampfansage an die Adresse der Pro Infirmis auf:

„Nach der einen sehr schlimmen Erfahrung meiner Familie mit diesem Verein würde ich eher zu EXIT gehen, als zu denen mit einer Bitte um Hilfe“

Etwas mehr Bodenständigkeit, Selbstreflektion und Sinn für die Entwicklungen ausserhalb des eigenen Umfeldes würden dem ZSL gut anstehen.


Siehe auch:

Jahresbericht 2012 - Nach der Revolution / Zentrum für Selbstbestimmtes Leben

Donnerstag, 16. Mai 2013

Sterbehilfe - Designer-Babies - geklonte Embryonen

Diese Woche gab es gleich drei Schlagzeilen, die mich sehr beunruhigt haben:

"Strassburg will Gesetzesregelung zur Sterbehilfe"

"MicroSort-Geschlechtsauswahl steht in der Schweiz zur Verfügung"

"Forscher klonen erstmals menschliche Stammzellen"

Zweifellos gäben diese drei Schlagzeilen genügend Material für einen monumentalen Blog-Artikel mit einem finalen, flammenden Plädoyer für die Menschenwürde her. Keine Sorge, ich tue uns beiden einen Gefallen und erspare mir das Schreiben und Ihnen das Lesen dieses Artikels.

Filmposter von "Gattaca"

Stattdessen empfehle ich Ihnen zum Wochenende hin drei sehenswerte Filme zu diesen Themen, die meine Bedenken recht gut wiedergeben. - Nein, keine trockenen Dokumentarfilme, sondern kommerzielle Produktionen, die sowohl unterhaltsam, als auch sozialkritisch sind:

zum Thema Sterbehilfe: "Die Auflösung / Half a Life", 22. Episode der 4. Staffel von Raumschiff Enterprise - Das nächste Jahrhundert

Zum Thema Designer-Babies: "Gattaca", Spielfilm mit Ethan Hawke, Uma Thurman und Jude Law

Zum Thema Klonen zu medizinischen Zwecken: "Die Insel / The Island", Spielfilm mit Scarlett Johansson, Ewan McGregor und Michael Clarke Duncan

Gute Unterhaltung!

Dienstag, 2. April 2013

Offener Brief zum #Weltautismustag 2013

Logo-Design: Fotobus


Wir sind Menschen
 
Es begann im Dezember mit der Berichterstattung über den Amoklauf in Newtown, die dazu führte, dass viele Autisten laut wurden, um sich Gehör zu verschaffen. Seither taucht „Autismus“ oder „autistisch sein“ immer wieder in einem völlig falschen Kontext auf.
 
In letzter Zeit nimmt es überhand, dass Politiker, Journalisten und Wirtschaftsbosse den Begriff Autismus missbrauchen, ohne darüber nachzudenken, welches falsche Bild dadurch von Autismus geprägt wird. Leider taucht der Begriff „autistisch“ meist im negativen Kontext auf, was ein Bemühen vieler Menschen, Autismus in der Gesellschaft bekannter zu machen, zunichte macht.
Betroffenen Menschen werden auf Grund solch schlecht recherchierter, diskriminierender und unüberlegter Aussagen mehr Vorurteile entgegen gebracht und es werden ihnen Eigenschaften zugesprochen, die mit dem, was Autismus ist, nichts mehr gemein haben.
 
Autisten sind Menschen mit ein paar besonderen Eigenschaften, die für die Allgemeinheit eine Bereicherung darstellen können, sofern sich diese auf sie einlässt.
Autisten sind dabei so verschieden, wie Menschen eben verschieden sind. Sie haben unterschiedliche Stärken, Schwächen, Begabungen und Interessen. Sie haben Gefühle, lieben ihre Familien und ihre Freunde. Und sie möchten geachtet und respektiert sein wie jeder andere Mensch auch.
Autisten leiden in der Regel nicht an ihrem Autismus, sondern an der Intoleranz und der fehlenden Akzeptanz ihres Umfeldes. Ja, Autisten haben Gefühle, manchmal sogar intensiver als andere. Sie können sie nur oft nicht ausdrücken. Manche Autisten zeigen ihr Innenleben reduzierter als andere. Autisten fällt kognitive Empathie oft schwer, also das reine Lesen der Gefühle anderer anhand nonverbaler Signale. Wenn sie jedoch wissen, wie sich das Gegenüber fühlt, zum Beispiel, weil es klar formuliert wurde, ist emotionale Empathie, also das Mitfühlen, meist kein Problem.
Zusammen kann es den Eindruck erwecken, dass Autisten weniger empathisch seien oder nicht an ihren Mitmenschen interessiert. Aber das ist in den meisten Fällen so nicht richtig und es verletzt Autisten oft gleichermaßen wie Nicht-Autisten, von einer Gesellschaft ausgegrenzt zu werden.
 
Daher ist eine breite Aufklärung über Autismus wichtig. Dazu gehört, dass man über uns in der Presse gut recherchiert berichtet und die Begrifflichkeit korrekt anwendet.
Helfen Sie uns, über Autismus aufzuklären.
Unser Ziel ist es, dass wir miteinander reden statt übereinander.
Dass Psychiater, Psychologen, Kinderärzte, Therapeuten, Medienverantwortliche, Politiker und viele andere Menschen, die mit Autisten arbeiten oder über sie „urteilen“, sich einmal mit der Sichtweise der Autisten auseinandersetzen und davon profitieren.
Es wird Zeit, dass man endlich anfängt mit uns zu reden und nicht nur über uns.
 
 
 
Siehe auch:
 

Donnerstag, 28. März 2013

Offener Brief an Dr. Helmut Reitze (Intendant #hr) bezüglich #Euthanasie im Dritten Reich

Sehr geehrter Herr Dr. Reitze

1988 entstand unter Federführung von Ernst Klee und Gunnar Petrich beim Hessischen Rundfunk die Dokumentation "Alles Kranke ist Last - Die Kirchen und die Vernichtung lebensunwerten Lebens". Behandelt wird darin die Beteiligung der Kirchen und diakonischen Einrichtungen an der Aktion T4, der systematischen Ermordung behinderter und kranker Menschen im Dritten Reich. Der Film relativiert damit den Mythos des kirchlichen Widerstandes und entlarvt so manchen gefeierten Helden als Kollaborateur.

Leider ist dieser wichtige Film in den Archiven des Hessischen Rundfunkes verschwunden und wurde nie mehr gezeigt. Generell scheint das Thema Euthanasie im Dritten Reich bei den öffentlichen-rechtlichen Rundfunkanstalten kein grosses Thema zu sein - Trotz den eskalierenden Zuständen in Pflegeeinrichtungen, den Diskussionen um pränatale Diagnostik und Sterbehilfe und der zunehmenden Reduzierung des Menschen auf sein Kosten-Nutzen-Verhältnis im Allgemeinen.

Da der HR kein Interesse mehr an der Dokumentation "Alles Kranke ist Last" zu haben schien, haben wir uns vor zweieinhalb Jahren erlaubt, im Sinne von Art. 45a des deutschen Urheberrechtsgesetzes, eine Privatkopie des Filmes zu digitalisieren, für sinnesbehinderte Menschen Untertitel und eine Abschrift zu erstellen und das Ganze auf Youtube hochzuladen. Wir haben selbstverständlich auf die beiden Macher und den Urheber des Filmes verwiesen, wobei wir versehentlich die ARD anstatt den HR als Urheber angegeben haben. Der Film fand seither wieder einige Beachtung und wir haben viele positive Reaktionen bekommen.

Am 19. März diesen Jahres wurden die Videos dann aber Aufgrund einer Beschwerde der ARD von Youtube gesperrt, was uns sehr irritiert. Der mit GEZ-Gebühren und somit von der Allgemeinheit finanzierte Film wurde vom HR 25 Jahre lang nicht mehr beachtet. Erst seit wir diese barrierefreie Kopie online gestellt haben, war er für Interessierte wieder zugänglich. Wir haben also den HR keineswegs konkurrenziert. Auch haben wir keinerlei Werbung geschaltet, um an dem Werk Geld zu verdienen. Wir haben ganz im Sinne Ihres öffentlich-rechtlichen Auftrages gehandelt und uneigennützig zu geschichtlicher Aufklärung beigetragen.

Dennoch beharrt man von Seiten des HR's aus "redaktionellen und rechtlichen Gründen" (Was das genau für Gründe sind wurde uns nicht mitgeteilt) auf dem Veröffentlichungsverbot, ohne eine Alternative anzubieten. Auch behinderte Menschen haben ein Recht auf ihre Geschichte und wir bitten Sie, Herr Dr. Reitze, dieses Recht zu respektieren und dafür zu sorgen, dass der Film wieder in einer barrierefreien Weise öffentlich zugänglich gemacht wird - Sei dies nun, in dem Sie uns erlauben, den Film wieder online zu stellen, oder in dem Sie ihn auf einer eigenen, für behinderte Personen zugänglichen Plattform zur Verfügung stellen, sodass wir darauf verlinken können. Die Untertitelte Privatkopie sowie die Abschrift stellen wir Ihnen gerne zur freien Verfügung.

Hochachtungsvoll, David Siems

Mittwoch, 27. Februar 2013

#SBB: Unsere Kunden sind uns keine 0.14 Rappen Wert

Das Bundesgericht hat entschieden: Die SBB muss ihr Angebot an Rollstuhlplätzen in den 20 neuen Intercity-Doppelstockzügen nicht umgestalten. Integration Handicap und die Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen unterlagen der SBB im Beschwerdeverfahren gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes. In der Pressemitteilung der SBB spricht man von einem wichtigen Signal. Und tatsächlich sollte dieses Urteil jedem SBB-Kunden schwer zu denken geben.

"Behindertenabteil" statt Inklusion

Der SBB wurde mit der Annahme der Beschwerde durch das Bundesgericht das Recht eingeräumt, sich auf ein separates Behindertenabteil mit rollstuhlgängiger Toilette im Untergeschoss des Speisewagens, sowie jeweils einem bedingt nutzbaren Sitzplatz für Rollstuhlfahrer in den ansonsten nicht barrierefreien übrigen Wagons zu beschränken.

Da das Behindertenabteil gleichzeitig als Ersatz für den fehlenden Zugang zum Speisewagen gedacht ist und daher mit Tischen ausgestattet sein wird, wird es gerade mal drei Rollstuhlfahrern Platz bieten. Zum "Ghetto" wird der Speisewagenersatz aufgrund der Tatsache, dass dort nur behinderte Personen bedient werden sollen. Nichtbehinderte Personen dürften daher kaum motiviert sein, einen der elf regulären Sitzplätze des Abteils zu benutzen. Die Rollstuhlplätze in den übrigen Wagons werden sich wahrscheinlich als Alibiübung entpuppen, da sie einerseits für viele Rollstuhltypen zu eng gestaltet sind und man andererseits von dort aus keinen Zugang zu einer barrierefreien Toilette haben wird. Somit werden in einem Zug mit 600 Sitzplätzen faktisch nur drei Personen reisen können, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind - und das auch noch in so einer Art Sonderzone, isoliert von den übrigen Reisenden.

Almosen statt Service-Qualität

Ein zusätzliches barrierefreies Abteil im an den Speisewagen angrenzenden Wagon einzurichten, wie dies das Bundesverwaltungsgericht im April 2012 angeordnet hatte, scheint vor diesem Hintergrund doch eine recht vernünftige Massnahme zu sein. Zumal die Mehrkosten für diese Planänderung gemäss SBB gerade mal bei einem halben Prozent liegen würden (10 Millionen Franken Mehrkosten bei Gesamtkosten von 1.9 Milliarden Franken).

Dass man sich bei der SBB so massiv dagegen gewehrt hat, zeigt eindrücklich, dass die Verantwortlichen den eigentlichen Sinn von Barrierefreiheit nicht wirklich verstanden haben: Sie ist kein Almosen für "arme Behinderte". Sie ist eine Versicherung, die jedem Kunden auch dann den vollumfänglichen Zugang zu einer Leistung oder einem Produkt garantiert, wenn er einmal in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist. Ob dieser Zustand nun vorübergehend (z.B. wegen einem Beinbruch) oder dauerhaft ist, spielt letztendlich keine Rolle: Wenn der Kunde zum Zeitpunkt seiner Reise eingeschränkt ist und die SBB den Komfort des Angebotes unter diesen Umständen nicht garantieren kann, hat sie schlecht gearbeitet.

Wenn man bedenkt, dass die SBB 977'000 Passagiere pro Tag bedient und man von einer 20-jährigen Nutzungsdauer der neuen Züge ausgeht, hätte die Bahngesellschaft gerademal 0.14 Rappen(!) pro Tag und Fahrgast investieren müssen, um dies zu verhindern. Dass das der SBB zu teuer war, ist ein Affront gegen jeden Bahnkunden.

Daran ändert dann auch der Verweis auf das "SBB Callcenter Handicap" und die diversen Vergünstigungen am Ende der Pressemitteilung nichts, im Gegenteil: Die Einstiegshilfe, die man beim Callcenter anfordern kann, ermöglicht Rollstuhlfahrern zwar die Benützung eines für sie eigentlich unzugänglichen Zuges. Aber man wird durch die Inanspruchnahme dieser Einstiegshilfe vor allen anderen Reisenden als "Sonderfall" exponiert, der die Weiterfahrt des Zuges behindert:



- Eine solche öffentliche Demütigung kann man kaum als kundenfreundliche Lösung bezeichnen und erst recht nicht als Beitrag für mehr Autonomie. Es ist eine Verlegenheitslösung die aus dem Kauf von nicht benutzerfreundlichem Rollmaterial resultiert und sicher nichts, womit man sich öffentlich profilieren sollte.

Auch das Vergünstigungssystem bei den Ticketpreisen bezeugt das konfuse Almosendenken der SBB: Warum sollen beispielsweise blinde Personen Ortsbuse und Tramlinien einiger Städte gratis benutzen dürfen und für Regionalzüge voll bezahlen müssen, während dem IV-Rentner beim Kauf eines GA's 30% Rabatt erhalten? Wo steckt die Logik hinter derartigen Tarifkonstrukten? Und inwiefern zeugt das, wie in der Pressemitteilung behauptet, vom Engagement der SBB für die "Autonomie" behinderter Fahrgäste? Ich bin mir sicher, dass die meisten Betroffenen mit Freude den vollen Ticketpreis bezahlen würden, wenn sie von der SBB im Gegenzug wie vollwertige Kunden behandelt werden würden.

Sinnlose Beschwerde

Endgültig ad absurdum führen die Bundesbahnen ihre Beschwerde im zweituntersten Abschnitt, wo es heisst: "Die SBB hat das ursprünglich geplante Design vorsorglich modifiziert und mit der Umsetzung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts bereits begonnen. Dies, um keine weiteren Verzögerungen zu riskieren. Nach dem heutigen Entscheid wird nun geprüft, wie dieser im Projektverlauf umgesetzt werden kann. Die Abstimmung mit den Verbänden und das Verfahren haben zu erhöhtem Engineeringaufwand geführt, wodurch zusätzliche Kosten von ca. 10 Mio. Franken entstehen."

- Die vom Bundesverwaltungsgericht verordnete Planänderung wurde also bereits vorgenommen. Die durch die Plankorrektur bedingten 10 Millionen Franken Mehrkosten (0.5% der Gesamtkosten) sind bereits entstanden. Dennoch überprüft man jetzt, ob man die Anpassungen wieder rückgängig machen kann, wodurch die 10 Millionen Franken sinnlos in den Sand gesetzt werden würden und womöglich noch einmal zusätzliche Mehrkosten entstehen könnten. Was bezweckt die SBB damit? Wozu beharrt sie auf ihrem jetzt offensichtlich sinnlosen Standpunkt? Ist dies das Verhalten eines Unternehmens, welches sein Angebot in permanentem Dialog mit den Kundinnen und Kunden den Bedürfnissen anpasst, wie es auf der Homepage der SBB heisst?


Siehe auch:

Neue SBB-Doppelstockzüge: Kein «Ghetto-Abteil», bitte!

Bundesverwaltungsgericht gibt Behindertenorganisationen Recht

Neue Doppelstockzüge der SBB für den Fernverkehr: Bundesgericht heisst Beschwerde der SBB gut.

"Es braucht keinen barrierefreien öV"

Mittwoch, 6. Februar 2013

IV-Stelle Zürich bessert Plakate nach

Zürich: Am 4. Februar präsentierte die SVA Zürich der Öffentlichkeit ihre Plakatkampagne "30 Tage Krankheit sind genug". Nun, zwei Tage später, gibt die Sozialversicherungsanstalt bekannt, dass die Plakate überarbeitet werden müssen: "Die diffamierenden Berichte wo behaupten, dass wir nicht sauber arbeiten, haben uns dazu veranlasst einige Änderungen an den Plakaten vorzunehmen.", teilte heute ein SVA-Sprecher in einem Communiqué mit. Die Texte sollen so abgeändert werden, dass sie den Medien möglichst wenig Angriffsfläche bieten.

Da die Plakatkampagne bereits angelaufen ist und an einigen Standorten im Kanton schon Exemplare aufgehängt wurden, sei die Umsetzung dieser Korrekturen jedoch keine leichte Sache: "Bei den Plakaten, wo schon aufgehängt sind, kommt ein Spezialisten-Team zum Einsatz, wo spezialisiert auf Plakatkorrektur ist.", heisst es weiter.



Von Experten korrigiertes Plakat (für Vergrösserung Bild anklicken)

[Links auf dem Plakat ist ein Arbeitsplatz mit PC zu sehen, auf dem sich die nicht verarbeiteten Akten stapeln. Der Bildschirm ist mit diversen Notizen beklebt. Darüber steht: "30 Tage Krankheit sind genug." Daneben ist auf einem weissen Bereich zu lesen: "IV-Spezialisten beraten Arbeitgeber
und Mitarbeitende. Damit aus Krankheit nicht Invalidität wird." Dieser Text ist durchgestrichen und darunter steht in schlecht lesbarer Handschrift: "IV-Spezialisten machen irgendwas und das passt dann schon irgendwie. ps: Wer was anderes sagt, wird verklagt!" Ausserdem befinden sich das Logo der SVA-Zürich, Telefonnummer und Internetadresse auf dem Plakat, sowie der Slogan "Kompetenzzentrum für Sozialversicherungen"]


Siehe auch

Medienmitteilung SVA Zürich "30 Tage Krankheit sind genug"

Die zweifelhaften Methoden der IV

Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel

IV-Stelle blockt, Anwalt droht

Samstag, 2. Februar 2013

Wann folgt der #Aufschrei der Krüppel?

"@vonhorst wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor." - Als Anne Wizorek am 25. Januar um 12:26 auf ihrem Twitter-Profil diese zwei Sätze als Antwort an eine Frau postete, die von einem Arzt begrabscht wurde, ahnte sie wahrscheinlich nicht, welche Lawine sie damit lostreten würde.

Es folgte eine Flut an "Aufschrei"-Tweets, die mehrheitlich von anzüglichen Bemerkungen und unerwünschtem Körperkontakt berichteten. Es ging hier also nicht nur um Gewalt im konventionellen, brachialen Sinne, sondern um respektloses, grenzverletzendes Verhalten im Allgemeinen. Es ging um die Grenzbereiche von Gewalt, um jenes Verhalten, das leicht kleingeredet werden kann, als Schlagzeile nicht viel hergibt und gerade deshalb immer noch ganz selbstverständlich zum Alltag dazugehört. Oder wie Alice Schwarzer in Günther Jauchs Sendung vom 27. Januar es ausdrückte: "Diese Art von sexistischem Umgang mit Frauen, durch Kollegen, Vorgesetzte oder Arbeitspartner, ist ja in Wahrheit eine Machtgeste, die die Frau so zu sagen auf ihren Platz als Frau zurückschiebt und sie nicht als professionelles Gegenüber akzeptiert."

Die ganze Sache erinnerte mich recht schnell an meine eigenen Erfahrungen und mir wurde bewusst, dass auch ich ein paar dutzend #aufschrei-Tweets veröffentlichen könnte, wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund:


Die Ausbildnerin, die versucht hat, meine Lehre abzubrechen, nachdem ich ihren Annäherungsversuch abgewiesen habe #aufschrei

Der KV-Lehrling, der uns angespuckt hat, als ich meinem motorisch behinderten Mitlehrling die Treppe runter half #aufschrei

All die Male, als man mir ganz selbstverständliche Rechte und Freiheiten vorenthalten hat, mit der Begründung, ich sei schliesslich behindert #aufschrei

All die Male, als man keine Rücksicht auf mein Marfan-Syndrom nahm, mit der Begründung, ich könne keine Sonderbehandlung erwarten, nur weil ich behindert bin #aufschrei

Gegen Unbelehrbarkeit ist keine Charta gewachsen

Was ich an #aufschrei aber beinahe erschreckender finde, als die zahlreichen Erfahrungsberichte, sind die ignoranten Reaktionen mancher Unbelehrbarer: Zeilen wie "Du gehörst einfach mal wieder ordentlich durchgefickt.", sollen Frau Wizorek mehrfach zugeschickt worden sein. Das ist ja eine altbekannte Art, auf den Unmut einer Frau zu reagieren. "Die hat wohl gerade ihre Tage." oder "Die ist wohl in den Wechseljahren." sind auch beliebte Varianten.

Es sind gerade solche Reaktionen, die Anne Wizorek und ihren Mitstreiterinnen recht geben. Denn einen ordinären Spruch oder einen Klaps auf den Hintern kann man ja wie gesagt leicht kleinreden, behaupten, man hätte die Signale des Gegenübers halt falsch interpretiert etc. Aber in diesem Fall weiss man ja, dass das Gegenüber keine sexistischen Sprüche wünscht, tut aber diese Kritik mit eben einem solchen Spruch ab. Viel deutlicher kann man einem Menschen kaum sagen, dass man sich um seine Gefühle und Ansichten nicht schert.

Und auch hier sehe ich wieder eine Parallele zu behinderten Menschen: Hier wird die Unzurechnungsfähigkeit in der Regel nicht auf den Hormonhaushalt oder einen sexuellen Mangel bezogen (wobei mir auch schon mal ein Vorgesetzter den "Tipp" gegeben hat, ich solle doch anfangen zu wichsen, um meine "Geilheit" abzubauen). Hier muss vielmehr die Behinderung als Vorwand herhalten, um das Empfinden eines Menschen als irrational und unberechtigt abtun zu können: Man ist dann einfach grundsätzlich "psychisch gestört" oder aus anderen Gründen nicht zurechnungsfähig, selbst wenn die Behinderung nicht den geringsten Einfluss auf das Urteilsvermögen hat.

Manchmal geht es aber auch noch dreister und man wird ganz offen darauf hingewiesen, dass man ja "bedürftig" (kotz) ist und deshalb grundsätzlich dankbar zu sein und keine Ansprüche zu stellen hat. Das ist dann wenigstens ehrlich, gibt man doch damit ganz offen zu, dass man seine Aggressionen halt an dem auslässt, der schwach ist, weil er durch die geschaffene Abhängigkeit schwach gemacht wurde.

Vor diesem Hintergrund wird dann auch klar, warum die "Wir schauen hin-Charta zur Prävention von sexuellem Missbrauch, Ausbeutung und anderen Grenzverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderung", welche der Öffentlichkeit zufälligerweise fünf Tage nach Wizorek's folgenschwerem Tweet präsentiert wurde, völlig am Ziel vorbeischiesst: Sie trägt weder den Ursachen des Problems Rechnung (Machtverhältnis, schlechte Personalentscheide in Folge Bewerbermangel), noch erfasst sie seinen wahren Umfang (Die alltäglichen Grenzverletzungen, ohne die eine Behinderteneinrichtung gar nicht funktionieren kann). Würde sie das tun, könnte sie nur zum Schluss kommen, dass das System Heim an sich überwunden werden muss. Was bleibt, ist eine nette PR-Aktion, die spätestens beim Auffliegen des nächsten Skandals obsolet sein wird.

Wer sich näher für Belästigungen und Machtspielchen in Behinderteneinrichtungen interessiert, dem empfehle ich jetzt mal ganz uneigennützig das Buch, dass ich zu diesem Thema geschrieben habe:

hochbegabt - behindert - kaputt integriert: über das wahre Gesicht geschützter Institutionen

Die Geschichte passte leider auf keinen Blog und schon gar nicht in einen Tweet.


Siehe auch

Herrenwitz mit Folgen - hat Deutschland ein Sexismus-Problem? (Günther Jauch vom 27. Januar 2013)
Alles in allem eine schwache Sendung, aber Alice Schwarzer macht ein paar wichtige Punkte.

#aufschrei auf Gesellschaft, Behinderung und die Invalidenversicherung

Berner Missbrauchsfall hat laut Verbänden «spürbar sensibilisiert»

Website von "Wir schauen hin"

Heimgewalt Schweiz (Artikelsammlung zum Thema institutionelle Gewalt seit 2000)