Dienstag, 2. Juli 2013

Dickere Wände sind ein Fortschritt, aber keine Selbstbestimmung

Im äussersten Norden der Stadt Bern bildet die Aare eine riesige, verschlungene Schlaufe. Das Quartier, das sie dabei fast umschliesst, heisst Felsenau. Hier in Felsenau, auf einem Hügel am Waldrand gelegen, befindet sich die Stiftung Rossfeld. Sie betreibt unter anderem ein Schulheim, eine eigene KV-Berufsschule mit Internat, ein Wohnheim für Erwachsene und ein Bürozentrum mit geschützten Arbeitsplätzen. Im Prinzip deckt diese riesige Einrichtung fast alle Lebensbereiche ab, sodass man theoretisch die 60-jährige Zeitspanne vom Kindergarten bis zur Pensionierung dort verbringen könnte, ohne gross mit der Aussenwelt in Kontakt zu kommen. Das kann man praktisch finden. Mich lässt diese Vorstellung zusammenzucken.

Fällt da schwarzer Schnee vom Himmel?

Umso überraschter war ich, als ich von einem Workshop des Rossfeldes mit dem Titel "Stiftung Rossfeld baut für die Zukunft - selbständiges Wohnen mit Service in nächster Nähe / Einzigartiges, visionäres Projekt in der Region" erfuhr.

Nun muss man dazu sagen, dass heute viele behinderte Personen ohne oder mit geringem Pflegebedarf trotzdem im Heim leben müssen, weil es einfach nicht genug barrierefreie, bezahlbare Wohnungen gibt. Die Heime profitieren faktisch von diesem Notstand, da ein kaum pflegebedürftiger Heimbewohner viel rentabler ist, als jemand, der tatsächlich auf die Heiminfrastruktur angewiesen wäre. Für diese "teuren" Personen mit hohem Pflegebedarf ist dann dafür kein Platz mehr da. Ihre Notsituation wird dann wiederum dafür benutzt, Politiker für den Ausbau der Heimangebote zu gewinnen - die dann natürlich auch wieder zu einem grossen Teil von Leuten in Anspruch genommen werden, denen man mit Massnahmen, die den Wohnungsmarkt entspannen, viel besser und kostengünstiger helfen könnte.

Wenn ein Heim normale Wohnungen für behinderte Personen anbietet, konkurrenziert es damit also indirekt sein eigentliches Kerngeschäft. Deshalb schien mir ein solches Projekt gerade für eine so allumfassende Institution wie das Rossfeld absolut erstaunlich und ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, an diesem Workshop teilzunehmen.

Ein Workshop oder eine Werbeveranstaltung?

Der Workshop fand in einer Turnhalle statt. Es gab einige Tischinseln, an denen Heimbewohner, Ehemalige und jeweils ein Mitglied der Baukommission sassen. weiter vorne gab es dann eine Leinwand mit Rednerpult. Dort wurde das Projekt von Heimdirektorin Edith Bieri vorgestellt. Anschliessend wurde einige Minuten an den Tischen diskutiert und das jeweilige Mitglied der Baukommission fasste dann die Ergebnisse seines Tisches für die Halle zusammen.

Wie sich herausstellte, war die Projektphase eigentlich bereits abgeschlossen. Man wollte ein nicht mehr benötigtes Mitarbeitergebäude direkt vor dem Hauptgebäude abreissen und dort einen Wohnkomplex mit Ein-, Zwei- und Dreizimmerwohnungen hochziehen. Die Pläne für diesen Komplex lagen bereits auf dem Tisch und es gab sogar schon 3D-Modelle. Der Spielraum für Änderungswünsche war zu diesem Zeitpunkt also bereits sehr begrenzt.

Zu den "innovativen" Punkten des Projektes:
  1. Der wohl wichtigste Punkt: Mieter dieser Wohnungen sollen selber entscheiden können, ob sie die Dienste der Stiftung (Pflege, Therapien etc.) in Anspruch nehmen wollen oder nicht.
  2. Die Einzimmerwohnungen sollen mit 25 Quadratmetern (Zweizimmerwohnungen: 50 Quadratmeter, Dreizimmerwohnungen: 75 Quadratmeter) etwas grösser werden, als die Heimzimmer.
  3. Jede Wohnung soll eine eigene Kochecke und ein Badzimmer bekommen.
  4. Die Wände sollen dicker und damit weniger schalldurchlässig sein.
Zu Punkt eins möchte ich nochmal daran erinnern, dass das Rossfeld auf einem Hügel im äussersten Norden der Stadt liegt und sich die nächste öV-Haltestelle über einen halben Kilometer weit weg befindet. Ein zukünftiger Mieter wäre also auf jeden Fall auf den öV angewiesen und darauf, dass er den Höhenunterschied zwischen Haltestelle und Wohnkomplex auch bei Glatteis überwinden kann. Wie mir eine ehemalige Bewohnerin erklärte, sei das mit einem guten Elektrorollstuhl oder einem Swisstrac durchaus zu schaffen, aber mit einem Handrolli oder zu Fuss könne man es vergessen. Da sich das Rossfeld mehrheitlich an eine gehbehinderte Zielgruppe richtet, dürften also die meisten zukünftigen Bewohner durch die Umstände praktisch dazu gezwungen sein so weit wie möglich auf die Rossfeld-Dienste zurückzugreifen. Die grössere Unabhängigkeit und Selbstbestimmung - Kernargumente des Projektes - sind also reine Theorie. Die ungeeignete Lage sichert dem Rossfeld auch weiterhin ein faktisches Monopol.

Kurz und gut: Was uns Frau Bieri da präsentierte, war ein etwas "artgerechteres" Heim. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Viel Kritik und ein konstruktiver Vorschlag

Ich erklärte einem der Architekten, der die Baukommission an unserem Tisch vertrat, meine Bedenken und den Hintergrund mit der Wohnungsnot der Gehbehinderten. Das schien ihn nicht besonders zu interessieren, was durchaus verständlich ist. Wenn eigentlich schon alle Entscheidungen getroffen wurden, möchte man sein Projekt nicht komplett über den Haufen werfen und wieder bei null anfangen. Dementsprechend verschwieg er dann auch meinen Beitrag, als er die Diskussion am Tisch für die Halle zusammenfasste.

Zu meinem Erstaunen kam dann aber von allen anderen Tischen sehr viel Kritik am Projekt, unter anderem an der Nähe zum Heim, den fehlenden Balkonen und der Höhe des Mietzinses. Der letzte Tisch regte schliesslich an, dass man doch das Landstück mit dem alten Mitarbeitergebäude veräussern solle, um mit diesem Geld zentraler gelegenes Land kaufen und dort etwas bauen zu können.

Obwohl man deutlich spüren konnte, dass die Veranstaltung nicht so abgelaufen war, wie man sich das von Seiten der Verantwortlichen erhofft hatte, reagierte Frau Bieri recht diplomatisch auf die diversen Einwände. Ich witterte meine Chance und meldete mich direkt - was ja eigentlich nicht vorgesehen gewesen wäre. So erklärte ich dann in einer Turnhalle voller Heimbewohner kurz das Assistenzmodell und warum dennoch viele Menschen unnötigerweise ins Heim ziehen müssen. Ich lobte die Idee des letzten Tisches, führte etwas näher aus, wie man sie ausgestalten könnte und schloss mit dem Hinweis darauf, dass Bern mit seinem barrierefreien öV ja ein toller Wohnort für behinderte Menschen sei und somit ein idealer Standort für ein solches "Pionierprojekt" wäre. "Ja, Sie haben sich offensichtlich näher mit dem Thema auseinandergesetzt.", war die Antwort der Heimdirektorin. Dann war die Diskussion beendet und es gab Sandwiches.

Fazit

Trotz aller Kritik muss man anerkennen, dass die Rossfeldleitung sich bei der Planung des Wohnkomplexes ein paar Gedanken gemacht hat, die im Ansatz absolut richtig sind und den Bedürfnissen der Bewohner entgegenkommen. Man hätte einfach noch viel weitergehen und sich von gewohnten Denkmustern distanzieren müssen. Auch die Tatsache, dass in der Baukommission neben den Architekten und Mitgliedern der Heimführung immerhin ein Betroffener dabei war, ist ein Pluspunkt. Und auch wenn man den Workshop erst nach der eigentlichen Planung veranstaltete, was ihn eher zu einer Werbeveranstaltung für potentielle Mieter machte, ist es für diese Art von Einrichtung doch immer noch ungewöhnlich, Betroffene überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Immerhin hat die Rossfeldführung dadurch zur Kenntnis nehmen müssen, dass das, was sie für richtig halten, nicht unbedingt das ist, was ihre Zielgruppe möchte. Womöglich führt das ja langfristig zu einem Umdenken in der Stiftungsführung.

Dass man den Vorschlag mit dem Landabtausch tatsächlich umsetzt, halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Aber wer weiss: Wunder sollen ja hin und wieder passieren. Irgendwann kommt womöglich ein privater Investor auf die Idee, kleine Wohnungen zum maximalen EL-Beitrag an IV-Rentner zu vermieten, womit sich ja gutes Geld machen liesse. So gesehen wäre es aus Sicht der Heime dann doch klüger, diesen Markt selber zu bearbeiten, damit man diese kostengünstigen Bewohner nicht ganz verliert.