Freitag, 29. Juli 2011

"Es braucht keinen barrierefreien öV"



Wir befinden uns an einer Bushaltestelle in Zürich. Die persönliche Assistentin von Frau Iser führt gerade ein Telefonat mit dem "Call Center Handicap" der SBB in Brig.

Assistentin: "Die S-Bahn 12 ist ein Niederfluhr-Zug? ... Das ist gut, super, danke. Merci, auf Wiederhören."

Der Bus kommt an, die Busfahrerin klappt die Rampe aus.

Busfahrerin: "Wo müssen Sie raus?"

Assistentin: "Beim Bahnhof Zürich-Altstetten."

Wir befinden uns im Bahnhof Zürich-Altstetten, wo gerade die S12 ankommt - Es ist kein Niederfluhr-Zug. Drei unüberwindbare Stufen führen hinein.

Assistentin: "Ich rufe jetzt nochmal an. Das sollen die jetzt gerade biegen."

Assistentin am Telefon: "Also ich weiss nicht, ich hab zwei, drei Mal nachgefragt: Ist es wirklich ein Niederfluhr-Zug? Und ihre Mitarbeiterin hat gesagt: Ja, man kann rein und raus fahren. Also das geht nicht! Wenn man schon extra nachfragt. Wir haben uns auch extra an diese Stunde gehalten, für den Fall, dass wir Einstiegshilfe gebraucht hätten. ... Ja, natürlich, aber das geht halt einfach nicht. Ich meine, Zeit ist ja nicht gratis."

Assistentin zu Frau Iser: "Hey, aber so mühsam!"

Frau Iser: "Das passiert nun mal. Bei der SBB, VBZ... Scheisse nochmal."

Assistentin: "Aber was schauen die denn nach?"

Frau Iser: "Die sind einfach doof. Die sind einfach nur doof und unqualifiziert."

Assistentin: "Also, wir haben erst in 20 Minuten wieder einen Zug."

Wir verlassen das Perron, und gehen im Café beim Bahnhof etwas trinken. 20 Minuten später gehts wieder aufs Perron. Der Zug fährt ein.

Assistentin: "Nein! Nein, ich glaube es nicht!"

Frau Iser hält sich die Hand vor den Mund und fängt an zu lachen. Auch dieser Zug hat eine Stufe, die auch noch einen grossen Abstand zum Perron-Rand hat. Zum Glück ist aber ein Zugbegleiter dabei, der den mechanischen Rollstuhllift bereit macht. Der Lift bewegt sich in ruckartigen Bewegungen nach oben. Frau Iser wird durchgeschüttelt.

Zugbegleiter: "Wir haben so eine Faltrampe. Ginge das wohl fürs Aussteigen?"

Assistentin: "Faltrampe? Was ist das?"

Zugbegleiter: "Die ist dann halt schräg."

Wir sind jetzt im fahrenden Zug.

Frau Iser: "Diese... "Faltrampe" die ist vielleicht einen Meter fünfzig lang."

Assistentin: "Wir müssen schauen... Wenns nicht zu hoch ist... Wir schauen mal wie es aussieht. Sonst brauchen wir wieder diesen Lift... Man muss ja fast ein schlechtes Gewissen haben..."

Kameramann: "Ich hätte gar kein schlechtes Gewissen, nein nein."

Assistentin: "Nein, weisst du, weil die Leute jetzt noch zu spät kommen."

Kamermann: "Ich finde der Staat muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er nicht fähig ist, seine Infrastruktur allen zugänglich zu machen. Schliesslich zahlen wir ja alle Steuern."

Frau Iser: "Ja schon, aber am Ende vermittelt man uns das Gefühl, wir müssten uns entschuldigen."

Der Zug ist in Dietikon angekommen, der Zugbegleiter platziert die vielleicht einen Meter lange, wackelige Faltrampe. Am Busbahnhof Dietikon angekommen, muss die Assistentin zuerst wieder telefonisch nachfragen, ob der kommende Bus eine Rampe hat. Der Bus kommt an. Er verfügt über keine integrierte Rampe und der Fahrer hat die mobile Rampe vergessen.

Assistentin (zum Busfahrer): "Was? Sie haben die Rampe nicht dabei?"

Frau Iser muss von den beiden umständlich in den Bus getragen werden. Wir sind im Industriegebiet von Dietikon angekommen. Wir nähern uns der Digitec, dem Ziel der Reise. Vor dem Eingang befinden sich fünf Treppenstufen. Die Assistentin betritt das Gebäude, um nach ein paar Helfern zu suchen, die Frau Iser hochtragen können. Frau Iser fährt ins Bild, nimmt schmunzelnd ihre Sonnenbrille ab und wirft der Kamera einen Blick zu, als wolle sie sagen: "War ja klar."

Donnerstag, 7. Juli 2011

"Den Saustall ausmisten" - Kommentar von René Staubli im Tages Anzeiger vom 07.07.2011

Wenn die Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patienten nach dem wegweisenden Bundesgerichtsurteil zu den IV-Verfahren nun den Rücktritt von Yves Rossier verlangt, dem Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), so zeigt diese Reaktion die Wut, die sich bei den Geschädigtenanwälten angestaut hat Die Wut über das BSV, das jahrelang zugesehen hat, wie sich im Schweizer IV-Gutachtermarkt die Korruption ausbreitete.

Die Rahmenbedingungen hatte das BSV selber geschaffen: 18 medizinische Abklärungsstellen (Medas) erhielten die exklusiven Schürfrechte für die Goldgrube, in der sie jährlich 40 Millionen Franken abholen konnten. Sie wurden nicht nach Leistung bezahlt, sondern pauschal mit 9'000 Franken pro Fall - wer weniger Aufwand betrieb, konnte Umsatz und Gewinn steigern. Eine Basler Medas, die auf ihrer Unabhängigkeit von der Invalidenversicherung beharrte und nicht bereit war, unter Druck ihre Gutachten zu revidieren und berechtigte Rentenansprüche abzuweisen, wurde kurzerhand boykottiert. Das Signal war klar: Wer die IV bei ihren Sparbemühungen unterstützt und restriktiv begutachtet, wird mit zusätzlichen Auftragen belohnt. Wer nicht pariert, geh leer aus.

Dieses System führte dazu, dass Versicherte oberflächlich untersucht und obendrein gedemütigt wurden. Ärzte ohne Berufsausübungsbewilligung erstellten Gutachten, und niemand schritt ein. Gewisse Medas flogen Ärzte aus Deutschland ein, die mit Begutachtungen leicht einen Zusatzverdienst erzielten. Die grösste Schweizer Medas, die ABI GmbH in Basel, besass die Dreistigkeit, dem Bundesgericht interne Fallzahlen zu verweigern, weil man "keinen Jahresbericht verfasse".

Nun ist die Zeit gekommen, den Saustall auszumisten. Medas, die zu 80 bis 100 Prozent von der IV abhängig sind, müssen sich neue wirtschaftliche Standbeine aufbauen, um diese Abhängigkeit zu reduzieren. Die Qualitätskontrolle der Medas kann nicht dem BSV überlassen werden, weil es am nötigen Vertrauen fehlt. Das Bundesamt muss diese Aufgabe an eine neutrale Stelle delegieren oder Versichertenvertretern die Möglichkeit einräumen, sich daran zu beteiligen.