Mittwoch, 11. September 2013

Iowa stellt Blinden Waffenscheine aus

Niemand stellt die Legalität der Waffenscheine in Frage, aber einige Beamte sorgen sich um die öffentliche Sicherheit.

Eine Pistole mit rauchender Mündung (Bild: Charles Knowles, flickr)

Des Moines, Iowa, USA: Hier ist eine Nachricht, die Behördenmitglieder und Abgeordnete dazu bringt, sich am Kopf zu kratzen: Der US-Bundesstaat Iowa erlaubt es blinden Menschen, Waffen zu erwerben und diese in der Öffentlichkeit zu tragen. Niemand stellt die Legalität der Genehmigungen in Frage. Die Gesetze von Iowa verbieten es seinen Sheriffs, einem Einwohner das Recht auf Waffenbesitz aufgrund seiner physischen Fähigkeiten vorzuenthalten. Dieses Dilemma zielt direkt auf die öffentliche Sicherheit. Die Interessensvertreter behinderter Menschen und die Gesetzeshüter Iowas sind sich uneinig darüber, ob es für sehbehinderte Iowaner eine gute Idee ist, Waffen zu besitzen.

Auf der einen Seite sind da Menschen wie Cedar County Sheriff Warren Wethington, der für die Nachrichtenplattform "The Des Moines Register" demonstrierte, wie blinde Menschen den Gebrauch von Schusswaffen erlernen können. Und Jane Hudson, Geschäftsführerin von "Disability Rights Iowa", die sagt, dass es gegen den "Americans with a Disability Act (ADA)" verstossen würde, sehbehinderte Menschen vom Recht auf Waffenbesitz auszuschliessen. Dieses Bundesgesetz verbietet Ungleichbehandlungen aufgrund einer Behinderung.

Auf der anderen Seite: Menschen wie Dubuque County Sheriff Don Vrotsos, der sagt, er würde einer blinden Person keinen Waffenschein ausstellen.  Und Patrick CLancy, Direktor der "Iowa Braille and Sight Saving School", der sagt, dass Waffen eine der wenigen Ausnahmen in seiner Philosophie der vollständigen Teilhabe blinder Menschen darstellen.

Privater Waffenbesitz - sogar Jagdlizenzen - für sehbehinderte Menschen sind in Iowa nichts neues. Aber die Praxis, sehbehinderten Einwohnern das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit zu erlauben, wurde erst durch eine Änderung des Waffengesetzes im Jahr 2011 möglich. "Es wirkt etwas seltsam, aber so wie sich das Gesetz liest, können wir niemandem eine Genehmigung verweigern, nur aufgrund der Tatsache, dass er blind ist.", sagt Sergeant Jana Abens, eine Sprecherin des Sheriff Departements von Polk County.

Polk County-Beamte sagen, sie hätten Waffenscheine an mindestens drei Leute ausgestellt, die aufgrund einer Sehbehinderung nicht Autofahren dürfen und unfähig waren oder Schwierigkeiten hatten, die Antragsformulare auszufüllen. Und Sheriffs in drei weiteren Counties (Jasper, Kossuth und Delaware County) sagen, dass sie Waffenscheine an Einwohner ausgestellt haben von denen sie glauben, dass sie stark sehbehindert sind. "Ich bin kein Experte für Sehkraft.", sagt Delaware County Sheriff John LeClere, "Ab welchem Grad hat eine Sehbehinderung einen nachteiligen Effekt auf das Abfeuern einer Schusswaffe? Wenn man nichts als eine verschwommene Masse vor sich sieht, dann würde ich davon abraten, darauf zu schiessen."

Training für sehbehinderte Menschen

In einem County in Iowa werden blinde Waffenbesitzer voraussichtlich ein spezielles Training erhalten. Sheriff Wethington hat eine blinde Tochter, die einen Waffentragschein beantragen möchte wenn sie in zwei Jahren 21 wird. Er demonstrierte für "The Des Moines Register" wie er blinden Menschen die Handhabung von Schusswaffen beibringen möchte. "Wenn Sheriffs sich mehr darauf konzentrieren würden, Kriminelle statt behinderte Menschen zu entwaffnen, wäre ihre Zeit besser investiert.", sagt Wethington, während dem er und seine Tochter das Schiessen mit einer halbautomatischen Pistole auf einem Privatgrundstück im ländlichen Cedar County üben.

Die Anzahl sehbehinderter oder blinder Iowaner, die die Erlaubnis zum Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit besitzen ist unbekannt, weil diese Information weder vom Staat, noch von den County Sheriffs, die die Genehmigungen erteilen, erhoben wird.

Clancy, Direktor der "Iowa Braille and Sight Saving School", sagt, dass die Sichtweite von Menschen die rechtlich als blind gelten, stark variiert. Er glaubt, dass es Fälle gibt, in denen Antragssteller sicher mit Schusswaffen umgehen können. Dennoch äussert er Bedenken: "Obwohl blinde Menschen an fast allen Lebenserfahrungen teilhaben können, gibt es Dinge wie die Handhabung von Waffen, die womöglich eine Aussnahme bilden."

Der "Gun Control Act" von 1968 und andere Bundesgesetze schliessen blinde Menschen vom Recht auf Waffenbesitz nicht aus. Aber anders als Iowa haben einige Bundesstaaten Gesetze, die genau ausführen, ob sehbehinderte Personen Waffenscheine beziehen können. Anforderungen an die Sehkraft sind direkt oder indirekt Teil der Bewilligungskriterien für Waffenscheine in einigen umliegenden Staaten. So müssen beispielsweise Antragssteller in Nebraska einen Beweis ihrer Sehkraft erbringen, in dem sie entweder einen gültigen Führerschein oder ein Zeugnis eines Augenarztes vorweisen, wenn sie eine versteckte Pistole tragen möchten.

Andere Bundesstaaten haben indirekte Voraussetzungen, die blinden Menschen den Zugang zu einer Genehmigung versperren können - aber nicht müssen. Das trifft unter anderem auf Missouri und Minnesota zu, wo Antragssteller eine Schiessübung absolvieren müssen, in der sie auf ein Ziel schiessen und es treffen müssen. Eine 50-Staaten Datenbank für Waffenschein-Voraussetzungen, welche von USACarry.com publiziert wurde, zeigt, dass in South Carolina ein Gesetz einen Beweis der Sehkraft verlangt, bevor eine Person für einen Waffenschein zugelassen wird.

Hingegen besitzt Wisconsin wie Iowa keine Einschränkungen für sehbehinderte Antragssteller. In Illinois wurde im Juli ein Gesetz über das versteckte Tragen von Waffen verabschiedet, aber es wurden bislang noch keine Genehmigungen ausgestellt. Die Voraussetzungen in Illinois verlangen keinen eigentlichen Sehtest, aber Antragssteller müssen ein Schusswaffentraining abschliessen.

Die "National Federation of the Blind" verfolgt die Bewilligungspraxis der Bundesstaaten nicht und hat bislang keine offizielle Stellungnahme zu diesem Thema abgegeben. Aber laut Chris Danielsen, dem Pressesprecher der Organisation, sind ihre Mitglieder im Allgemeinen gegen Restriktionen wie Sehtests: "Es gibt keinen Grund einer Person einzig und allein aufgrund ihrer Sehbehinderung das Tragen einer Schusswaffe zu verweigern. Vermutlich verfügen sie über den gesunden Menschenverstand, die Schusswaffe nicht zu gebrauchen, wenn sie dadurch andere Menschen in Gefahr bringen könnten, so wie wir das ja auch von anderen (sehenden) Waffenbesitzern erwarten."

Iowa verlangt ein Training für jeden, der im Begriff ist, eine Genehmigung für das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit zu erhalten. Aber diese Voraussetzung kann durch das absolvieren eines Online-Kurses erfüllt werden, welcher weder eine praktische Unterweisung, noch eine Schiessübung umfasst.

Eine Klausel im Waffengesetz von Iowa erlaubt es den Sheriffs, die Erteilung einer Genehmigung zu verweigern, wenn es Grund zur Annahme gibt, dass der Antragssteller sich oder andere mit der Waffe gefährden könnte. Viele Sheriffs stellten jedoch fest, dass sich die Klausel auf konkretes, dokumentiertes Verhalten bezieht und sehbehinderte Antragssteller, die gegen den Entscheid Berufung einlegen würden, vor Gericht höchst wahrscheinlich gewinnen würden.

Hudson, die Geschäftsführerin von "Disability Rights Iowa", glaubt, dass eine Änderung des staatlichen Waffengesetzes, welche blinde Menschen oder Menschen mit anderen Körperbehinderungen vom Waffenbesitz ausschliesst, gegen Bundesgesetze verstossen würde. Der "Americans with a Disability Act" schreibt öffentlichen Stellen vor, eine individuelle Überprüfung durchzuführen, um einen Fall angemessen beurteilen zu können, bevor sie einen Service verweigern. Hudson glaubt, dass man die Einschränkungen in Nebraska erfolgreich gerichtlich anfechten könnte. "Die Tatsache, dass jemand kein Auto fahren kann bedeutet nicht automatisch, dass er nicht auf einen Schiessplatz gehen und ein Ziel sehen kann.", sagt Hudson.

Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: USA Today

Montag, 2. September 2013

«Diese Trends sind für die Sozialhilfe alarmierend»

Sozialämter beobachten mit Sorge eine Verlagerung der Kosten von der IV zur Sozialhilfe.

Mit Felix Wolffers (Leiter des Sozialamtes der Stadt Bern) sprach Markus Brotschi, Bern

Die Invalidenversicherung (IV) verfolgt seit 2008 den Grundsatz «Eingliederung vor Rente». Mit der 5. IV-Revision erhielt sie neue Instrumente zur beruflichen Integration. Gleichzeitig wurde die Rentenpraxis verschärft, um die IV aus den roten Zahlen zu bringen. Allerdings mehren sich Berichte, wonach sich für IV-Rentner trotzdem kaum Stellen finden lassen (TA vom 17.8.). Gleichzeitig bestreitet die IV, dass die strengere Rentenpraxis gesundheitlich angeschlagene Menschen vermehrt in die Sozialhilfe führt. Genau dies beobachten aber Sozialämter: So verweist der Leiter des Sozialamts Bern darauf, dass immer mehr Behinderte in der Sozialhilfe hängen bleiben. Anzeichen für diese Entwicklung haben auch die Sozialdienste von Luzern, Basel-Stadt oder die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos).

Die IV hat von 2003 bis 2012 die Zahl der Neurenten fast halbiert. Ermöglicht hätten dies die neuen Eingliederungsmassnahmen. Stimmt das aus Sicht Ihres Sozialamtes?

Die Anzahl der Menschen mit einer Behinderung hat sich in dieser Zeit sicher nicht halbiert. Viele leiden nach wie vor an einer Behinderung. Sie erhalten aber keine Rente mehr und landen irgendwann bei der Sozialhilfe, wenn sie nicht ein grosses Vermögen haben oder von der Familie finanziell unterstützt werden. Weniger Renten bei der IV wären kein Problem, wenn auch Menschen mit einer Behinderung in der Wirtschaft eine Stelle finden würden. Dies ist aber nur in wenigen Fällen so. Leider erstellt die IV keine Statistik, die aufzeigt, wie oft Eingliederungsmassnahmen zum beruflichen Wiedereinstieg führen.

Haben Sie denn Belege dafür, dass die IV Menschen zur Sozialhilfe abschiebt?

Eine Zahl, die diese Tendenz aufzeigt, ist die Höhe der Rückerstattungen von bevorschussten IV-Leistungen. Während ein IV-Verfahren läuft, bezahlt die Sozialhilfe den Lebensunterhalt für jene, die über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen. Spricht die IV dann eine Rente, erstattet sie der Sozialhilfe die Vorschüsse zurück. Diese Rückerstattungen haben sich beim Sozialamt der Stadt Bern von 2007 bis 2010 fast halbiert, von 6,6 auf 3,6 Millionen Franken. Das deutet klar auf eine abnehmende Zahl von IV-Renten hin und darauf, dass mehr Menschen von der Sozialhilfe unterstützt werden müssen. Weil die IV-Verfahren sehr oft jahrelang dauern, werden die Effekte der verschärften Rentenpraxis erst in einigen Jahren noch deutlicher sichtbar. Heute erkennen wir erst Trends, aber diese sind für die Sozialhilfe alarmierend.

Das massiv ausgebaute Instrumentarium der IV zur Wiedereingliederung wird doch nicht völlig erfolglos sein.

Der Ausbau dieser Massnahmen führt vor allem dazu, dass jemand trotz Behinderung seine bisherige Stelle behalten kann – das ist sehr erfreulich. Wer aber die Stelle verloren hat, profitiert kaum. Eine von der IV in Auftrag gegebene Studie kommt zum Schluss, dass die 5. IVRevision bei Stellenlosen keinen positiven Effekt hat. Der Prozentsatz erfolgreich in den Arbeitsmarkt vermittelter Personen hat sich trotz der vielen Integrationsmassnahmen nicht erhöht. Behinderte ohne Stelle finden oft nicht mehr aus der Sozialhilfe heraus: In der Wirtschaft finden sie wegen ihrer Behinderung keine Arbeit, eine IV-Rente erhalten sie aber nicht mehr. Deshalb verzeichnen wir in der Sozialhilfe immer mehr Langzeitfälle – eine Entwicklung, die alle Städte feststellen.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)bestreitet, dass IV-Rentner vermehrt bei der Sozialhilfe landen.

Das Bundesamt beruft sich auf sein eigenes Monitoring, das die Wechselwirkungen zwischen Sozialhilfe, IV und Arbeitslosenversicherung aufzeigen soll. Beim genauen Lesen der Studie zeigt sich, dass diese die These vom Abschieben bisheriger IV-Fälle in die Sozialhilfe bestätigt. Weil die IV-Verfahren meist sehr lange dauern, verarmen viele während dieser Zeit und müssen von der Sozialhilfe unterstützt werden. 2007 hat die Sozialhilfe 4600 Personen unterstützt, die später eine IV-Rente erhalten haben. 2011 erhielten nur noch 4000 Personen aus der Sozialhilfe eine IV-Rente. Das zeigt, dass die IV-Praxis sich deutlich verschärft hat und viele behinderte Personen in der Sozialhilfe verbleiben.

Warum funktioniert aus Ihrer Sicht die Integration schlecht?

Die Verschärfung der IV-Praxis betrifft vor allem Menschen mit Schmerzsymptomen und medizinisch nur schwer fassbaren psychosomatischen Krankheiten. Bei diesen Menschen sind Eingliederungsmassnahmen sehr aufwendig und kaum erfolgreich. Sie sind heute faktisch von der IV ausgeschlossen, und die Sozialhilfe muss ihre soziale Sicherung übernehmen. Es handelt sich dabei sehr oft um Menschen ohne Berufsabschluss, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich verringert. Die Sozialhilfe muss in diesen Fällen oft während Jahrzehnten Unterstützungsleistungen ausrichten.

Die IV will bis 2017 rund 17000 Renten annullieren, um die Sparvorgaben zu erreichen. Davon sind vor allem Schmerzpatienten betroffen. Rechnen Sie damit, dass auch diese bei der Sozialhilfe landen?

Wer nach jahrelanger Absenz vom Arbeitsmarkt die IV-Rente verliert, wird nur schwer wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Wie sich die Aufhebung bestehender Renten mittelfristig auf die Sozialhilfe auswirkt, kann ich nicht voraussagen. Klar ist aber: Die IV verfolgt mit der Rentenüberprüfung ein grosses Sparziel. Wenn sie weniger Renten ausrichtet und es nicht gelingt, für die Betroffenen eine Stelle zu finden, muss am Schluss erneut die Sozialhilfe einspringen. Problematisch an dieser Entwicklung ist, dass so Kosten auf die Kantone und Gemeinden abgewälzt werden, welche die Sozialhilfe finanzieren.

Erschienen im Tages-Anzeiger vom 31. August 2013