Dienstag, 11. Dezember 2012

"Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Kuchen essen!"

Und auch die NZZ kann es natürlich nicht lassen, kurz vor der Behandlung der IV-Revision 6b durch den Nationalrat noch ein paar Halbwahrheiten zu verbreiten. So schrieb Michael Schoenenberger letzten Samstag in seinem Artikel "Die IV-Revision nicht zerfleddern" über die Kinderrenten:

"Das sind nicht etwa Renten für Kinder, sondern Zusatzleistungen für IV-Rentnerinnen und IV-Rentner, die Kinder haben."

Natürlich bekommen Kinder von der Invalidenversicherung keine Rente ausbezahlt, das wäre ja auch ziemlich absurd. Da Kinder unmündig und somit nicht geschäftsfähig sind, fällt es in die Verantwortung der Eltern für den Unterhalt ihrer Kinder aufzukommen. Dadurch entstehen den Eltern zusätzliche Kosten. Und da eine durchschnittliche 100%-IV-Rente nicht einmal das Existenzminimum einer Einzelperson deckt, bekommen berentete Eltern einen Zuschlag von derzeit 40% ausbezahlt. Diese Renten werden also völlig zurecht als "Kinderrenten" und nicht als "Elternrenten" bezeichnet. Es handelt sich keineswegs um eine "Belohnung" für IV-Rentner, die Kinder in die Welt gesetzt haben, wie es der Artikel anzudeuten versucht.

"Diese Zulage für Eltern fällt in der Schweiz äusserst grosszügig aus: Sie beträgt 40 Prozent der Invalidenrente. (...) Allerdings sind die zusätzlichen Mittel, die ein Haushalt mit Kindern braucht, berechenbar: Nationale und internationale Kalkulationen kommen auf Werte zwischen 20 und 33 Prozent pro Kind. Die OECD nennt 30 Prozent, die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe – sicherlich keine Sparapostelin in sozialstaatlichen Belangen – spricht von 33 Prozent."

Die zusätzlichen Kosten, die ein Kind verursacht, liegen tatsächlich bei etwa 30%. Jedenfalls geht auch das Bundesamt für Statistik (BFS) bei der Berechnung des sozialen Existenzminimums (Armutsgrenze) von diesem Wert aus. Wäre eine IV-Rente in jedem Falle existenzsichernd, wäre es also durchaus logisch, die Kinderrente auf 30% zu kürzen. Was im Artikel nicht erwähnt wird, ist die Tatsache, dass nur die maximale 100%-IV-Rente von derzeit 2'320 Franken ausreicht, um das Existenzminimum einer Einzelperson zu decken. In so einem Fall schiesst man bei einem Kinderrentenzuschlag von 40% tatsächlich auch ohne zusätzliche Leistungen um rund 300 Franken über die Armutsgrenze für einen Erwachsenen mit Kind hinaus.

Datenquelle: SVA Zürich, Budesamt für Statistik

Das Problem: Um einen so "hohen" Rentenanspruch geltend machen zu können, muss der Versicherte vor seiner Invalidität durchschnittlich 84'000 Franken pro Jahr (das sind 7'000 Franken pro Monat) verdient haben. Die meisten Menschen verdienen aber deutlich weniger. Dementsprechend liegt auch die durchschnittliche 100%-IV-Rente bei gerademal 1'607 Franken pro Monat. 40% davon entsprechen somit bei weitem nicht den zusätzlichen Kosten, die ein Kind verursacht. Wird dieser Zuschlag jetzt auch noch auf 30% gekürzt, sieht die Sache noch schlimmer aus:

Datenquelle: SVA Zürich, Bundesamt für Statistik


"Seit Einführung der IV-«Kinderrenten» sind zudem Leistungen in anderen Bereichen hinzugekommen: So besteht mittlerweile in der zweiten Säule zusätzlich Anspruch auf Kinderzulagen in der Höhe von 20 Prozent der IV-Rente nach BVG."

Zunächst einmal: Eine "IV-Rente nach BVG" gibt es nicht. Nur die IV entrichtet "IV-Renten". Die Pensionskassen entrichten "Invalidenrenten nach BVG". Das ist nicht das Selbe. Die Höhe dieser Rente beträgt jährlich 6.8% des theoretischen Altersguthabens der 2. Säule. Auch hier profitieren also wieder in erster Linie jene Leute, die gut verdient haben und viel in die 2. Säule einzahlen konnten. Wer gar nie arbeiten konnte oder zu wenig verdient hat, um in eine Pensionskasse aufgenommen zu werden, geht in diesem Punkt sogar komplett leer aus.

"Zu nennen sind auch die Ergänzungsleistungen und die Familienzulagen."

Die Familienzulagen betragen 200 Franken für unter 16-Jährige und 250 Franken für über 16-Jährige. Auch das reicht schon heute in vielen Fällen nicht aus, um die Armutsgrenze zu erreichen. An dieser Stelle die Ergänzungsleistungen ins Spiel zu bringen, macht wiederum überhaupt keinen Sinn. Die EL kommt ja immer erst dann zum Tragen, wenn das existenzsichernde Einkommen unterschritten wird. Das ist ja einer der Kernkritikpunkte der Gegner der Kinderrentenkürzung: Dass die Kosten damit lediglich in die EL verlagert werden.

So viel zum Thema Kinderrenten. Ich bin bei meinen Ausführungen ja immer von einem zu 100% invaliden Erwachsenen mit einem Kind ausgegangen, dessen Beitragsdauer keine Lücken aufweist, um die sehr komplizierte Thematik halbwegs verständlich aufarbeiten zu können. Je nachdem, ob es einen Partner mit zusätzlichem Einkommen gibt, der Invaliditätsgrad weniger als 100% beträgt oder für mehr als ein Kind gesorgt werden muss (= höhere Armutsgrenze), kann die Rechnung besser oder schlechter ausfallen. Natürlich gibt es auch noch zig weitere Faktoren, die einen Einfluss haben können. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass die Kinderrentenkürzung vielen Rentnern finanzielle Probleme bereiten wird und somit eben tatsächlich nicht sozialverträglich ist.

Reisekosten

Hier machen wir es kurz und bündig:

"Stehen medizinische Massnahmen an, soll auf die Behinderung der versicherten Person geschaut werden. So werden die Mehrkosten eines Transports zurückerstattet, die aufgrund eines Geburtsgebrechens oder einer zerebralen Lähmung entstehen. IV-Rentner mit einer psychischen Behinderung können aber öffentliche Verkehrsmittel benutzen, sie brauchen kein Behindertentaxi."

Selbstverständlich gibt es psychische Behinderungen, die dazu führen, dass jemand die öffentlichen Verkehrsmittel gar nicht, oder nur in Begleitung benutzen kann. Jemand mit einer schweren Angststörung (Platzangst, Panikstörung, etc.) wird sich beispielsweise kaum mit fremden Leuten in einem vollbesetzten Bus aufhalten können.

Zum Autor

Bei Michael Schoenenberger, dem Verfasser dieses schlecht recherchierten, süffisant-polemisch formulierten Artikels, handelt es sich übrigens um einen erfahrenen Journalisten mit akademischem Hintergrund und dem Themenschwerpunkt "Sozialversicherungen". Oder anders gesagt: Es handelt sich um jemanden, der eigentlich ein Bisschen Ahnung vom Thema haben müsste und wissen sollte, was sauberer Journalismus ist und was nicht. Deshalb lässt sich das Zustandekommen dieses Artikels eigentlich nur mit einer realitätsfremden, dekadenten Haltung des Autors gegenüber den schwierigen Lebensumständen invalider Personen erklären. Oder, um es mit den Worten von Rousseau zu sagen: "Endlich erinnere ich mich des Notbehelfs einer grossen Prinzessin, der man sagte, die Bauern hätten kein Brot, und die antwortete: Dann sollen sie Brioche essen!"

Siehe auch

Die IV-Revision nicht zerfleddern

"Kinderrenten braucht es so nicht mehr"

Sonntag, 9. Dezember 2012

Vier Menschen mit Übergewicht brechen aus dem Alltag aus

Mittagessen in der Pizzeria Dara in Schwamendingen, Punsch trinken am Märt sowie ein Abendessen in Dübendorf: Dies alles erleben vier Menschen mit Übergewicht am Wochenende.

Rolf ist ein dicker Mann. Er sitzt neben Maya Streich, ausgebildet in Ernährungs- und Fitnessberatung, auf dem Sofa im Feriendomizil, dem Hotel/Restaurant Jägersburg in Dübendorf. Warum Rolf keinen Nachnamen hat, wissen wir auch nicht. In der Hand hält er eine Fernbedienung, mit der er jeweils durchs komplette Programm zapped, so lange, bis er beim letzten Sender angekommen ist. Dann beginnt er wieder von vorne.

Plötzlich steht Rolf auf und marschiert schnurstracks zur Minibar. Sein Interesse gilt den Schokoriegeln und den gesalzenen Nüssen. Sanft aber bestimmt wird er von der Ernährungs- und Fitnessberaterin wieder zum Sofa gelotst. Dieses Ritual wiederholt sich mehr als einmal. Ganz anders der 32-jährige Mathias, der genau wie Rolf ebenfalls keinen Nachnamen zu besitzen scheint. Er verhält sich ruhig, hört zu. «Mathias' Übergewicht rührt eher daher, dass er sich zu wenig bewegt. Er isst eigentlich nicht viel mehr, als ein "normaler" Mensch», erklärt Streich.

Eine Bereicherung des Alltags

Auf Stühlen, auf ihren dicken, warmen Hintern sitzen zwei Frauen. Ihre Diagnose: Hormonell bedingtes Übergewicht. Die beiden heissen "42-Jährige" und "58-Jährige".  Kurz vor 18 Uhr macht sich die Gruppe dann auf, um im Restaurant Hecht in Dübendorf fein essen zu gehen. Zur Feier des Tages bekommen Mathias und Rolf, in deren Mitte der Ernährungsberatungsassistent und Nachnamenbesitzer Reto Lang sitzt, ein Bier. Für alle Feriengäste wird bestellt, was sie nicht noch dicker macht.

Siehe auch

Vier Menschen mit Behinderung brechen aus dem Alltag aus

All die fröhlichen Gesichter

Samstag, 8. Dezember 2012

Evaluation der 5. IV-Revision: Schöngeredete Zwischenbilanz


Lange Zeit wurde von Behindertenorganisationen und anderen Kritikern der 6. IV-Revision bemängelt, dass man den Revisions- und Sparkurs unter dem Titel "Eingliederung vor Rente" ungebremst fortführt, obwohl noch gar keine wissenschaftliche Auswertung über die Wirksamkeit der 5. IV-Revision vorliege.

Pünktlich zur bevorstehenden Behandlung der IV-Revision 6b durch den Nationalrat am nächsten Mittwoch lieferte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) nun genau das. Und schon in der Einleitung der dazugehörigen Pressemitteilung lässt das BSV keinen Zweifel daran aufkommen, dass die 5. IV-Revision ein voller Erfolg ist und der eingeschlagene Kurs unbedingt fortgeführt werden sollte:

Bern, 07.12.2012 - Die 5. Revision hat die Invalidenversicherung (IV) auf den gewünschten Kurs gebracht. Das zeigt eine erste Evaluation der Gesetzesrevision nach vier Jahren Erfahrungen im Vollzug. Der Kulturwandel von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung, der mit der 5. IV-Revision angestrebt wurde, ist tatsächlich vollzogen worden und lässt sich wissenschaftlich nachweisen.

Auch der Rest der Medienmitteilung  strotzt geradezu vor Lobeshymnen auf diesen sogenannten "Kulturwandel", dessen Erfolg natürlich auf die gute Arbeit der IV-Stellen und deren Mitarbeitenden (und nicht etwa auf das Engagement der Versicherten) zurück zu führen sei. Kein Aspekt der Gesetzesrevision wird hinterfragt. Es wird lediglich bemerkt, dass die IV-Stellen diese neuen Möglichkeiten noch nicht vollumfänglich ausschöpfen würden.

Dass eine so umstrittene Gesetzesrevision einer wissenschaftlichen Analyse in allen Punkten so mühelos standhält, ist schwer vorstellbar. Und tatsächlich: Der eigentliche Bericht geht mit dem Thema wesentlich differenzierter um. Auf den Seiten 125 bis 127 wird das besonders deutlich. Dort geht es nämlich um den eigentlichen Kern der ganzen Integrations-Frage. Nämlich darum, wie viele Personen nach Abschluss des IV-Verfahrens einen Arbeitsplatz haben.

Datenquelle: BSV / Forschungsbericht Nr. 13/12"Eingliederung vor Rente"

Vor Inkrafttreten der Revision waren es 40% der angemeldeten Personen, nach Inkrafttreten 44%. Das ist eine leichte Steigerung und somit an und für sich kein schlechtes Resultat. Aber das als "Kulturwandel von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung" zu bezeichnen, ist doch ziemlich realitätsfremd. Immerhin stehen immer noch 56% der angemeldeten Personen am Ende des Verfahrens ohne Arbeitsplatz da. Und dass die dann eine Rente bekommen, ist alles andere als sicher. Denn auch wenn man nach Abschluss einer Integrationsmassnahme keinen Job hat, kann einen die IV dennoch als voll arbeitsfähig einstufen. Mit welchen Methoden die IV das selbst bei eindeutig invaliden Personen bewerkstelligt, wurde in den Medien schon ausführlich thematisiert (Stichwort: Gutachten, päusBonoG's, etc.).

Noch schlimmer sieht es übrigens bei jenen Versicherten aus, die zum Zeitpunkt der Anmeldung bei der IV bereits erwerbslos sind. Hier ist der Anteil derer, die am Ende des Verfahrens einen Job haben, bei bescheidenen 20% gleich tief wie vor Inkrafttreten der Revision. Das ist schon sehr bedenklich, da es sich bei dieser Gruppe ja um die eigentlichen Integrationsfälle handelt. Denn jemand, der zum Zeitpunkt der Anmeldung bei der IV noch eine Stelle hat, wird ja nicht wirklich integriert. In so einem Fall geht es lediglich darum, den womöglich drohenden Verlust des Arbeitsplatzes zu verhindern, was, wie die Praxis zeigt, weitaus weniger anspruchsvoll ist.

In zwei Punkten muss ich dem BSV aber zustimmen: Die Invalidenversicherung macht einen Kulturwandel durch und dieser führt sie tatsächlich weg von ihrer Rolle als Rentenversicherung. Doch sie verwandelt sich keineswegs in eine Eingliederungsversicherung, sondern in eine Behörde, die in vielen Fällen in erster Linie darum bemüht ist, sich möglichst schadlos aus der Affäre ziehen zu können.

Siehe auch