Donnerstag, 18. Dezember 2014

#YesAllWomen, aber nicht wirklich: Wie der Feminismus Frauen mit Behinderung aussenvorlässt

Vorwort des Übersetzers


Unter dem Hashtag #YesAllWomen posten seit einigen Monaten US-amerikanische Twitter-Nutzerinnen Beispiele von Frauenfeindlichkeit und gegen Frauen gerichtete Gewalt. Es handelt sich gewissermassen um das US-Gegenstück zur deutschsprachigen #Aufschrei-Kampagne.

Als nun aber die US-amerikanische SL-Aktivistin Stephanie Woodward versuchte, Gewalt gegen Frauen mit Behinderung zum Thema zu machen, stiess sie damit auf viel Ablehnung. Eine interessante Kontroverse über Feminismus und Frauen mit Behinderung, von der wir nur lernen können, da sie hierzulande genauso gut hätte stattfinden können.

#YesAllWomen, aber nicht wirklich: Wie der Feminismus Frauen mit Behinderung aussenvorlässt


Unbeabsichtigt oder nicht: Der moderne Feminismus schliesst seine behinderten Schwestern aus der Diskussion aus.

Mit viralen Hashtags wie #SolidarityIsForWhiteWomen oder #DropDunham ist es für Aktivistinnen einfacher denn je, endlich Fortschritte gegen die traditionell auf weisse, heterosexuelle, nichtbehinderte Cisgender-Frauen beschränkte Loyalität des Feminismus' zu machen.

Nach dem Amoklauf in Isla Vista, Kalifornien im Mai diesen Jahres, Antwortete die Netzgemeinschaft mit tausenden von Tweets, die unter dem Hashtag #YesAllWomen klarmachten, dass jede Frau in ihrem Alltag mit Belästigungen und Diskriminierung konfrontiert wird. Doch trotz der zahlreichen Erfolge der Kampagne, wurde auch deutlich, dass der Hashtag #YesAllWomen wirklich nur für einige Frauen da ist.

Als Stephanie Woodward über #YesAllWomen bloggte, freute sie sich darauf, sich der Bewegung anzuschliessen und ihre eigenen Lebenserfahrungen als Frau mit Behinderung zu teilen. Sie hätte nie gedacht, dass ihr Post ihr zahlreiche feindselige Nachrichten von Aktivistinnen einbringen würde, in denen man sie dafür beschimpfte, dass sie versuchen würde "vom wahren Problem abzulenken" und die Kampagne für das Thema Behinderung zu missbrauchen.

"Ich wusste nicht, dass man vom 'echten Problem', was immer das heissen soll, ablenkt, wenn man über die Gewalt spricht, die Frauen mit Behinderung erfahren.", sagt Woodward. "Zählen Frauen mit Behinderung nicht als Frauen? Sind wir nicht Teil der weiblichen Bevölkerung?"

Woodwards Erfahrung ist - leider - kein Einzelfall. Feministinnen mit Behinderung sagen, dass ihre Stimmen nicht gehört werden und das ist sehr, sehr gefährlich. Warum? Weil Frauen mit Behinderung einer der am stärksten von Gewalt bedrohten Personengruppen der Welt darstellen. Gemäss der "National Coalition Against Domestic Violence" haben niederschmetternde 80% der Frauen mit Behinderung sexuelle Gewalt erlebt. Bei Frauen mit intellektueller Behinderung ist der Prozentsatz sogar noch höher. Für Frauen mit Behinderung ist das Risiko, gewalttätig behandelt zu werden, im Allgemeinen um 40% höher, als für Frauen ohne Behinderung. Bei den Tätern handelt es sich für gewöhnlich um ihre männlichen Partner, oder aber um Pflegepersonal oder Familienmitglieder.

Eine Ursache für das Problem, dass Frauen mit Behinderung nicht am Feminismus teilhaben können, ist fehlende Barrierefreiheit. Zu oft handelt es sich bei den Orten, an denen sich lokale Feministen-Gruppen treffen, um Kaffestuben, die sich in einem Obergeschoss ohne Lift befinden oder aber um gut besuchte Bars ohne Induktive Höranlage, was jede Frau mit einer körperlichen Abweichung wirkungsvoll ausschliesst. Meistens handelt es sich bei dem Problem um eine Kostenfrage: Im schwer zugänglichen Pub kann sich die Gruppe kostenlos treffen, während dem ein komplett barrierefreies Sitzungszimmer teuer gemietet werden müsste.

Aber wenn es nicht an der Barrierefreiheit scheitert, ist es ein Mangel an Empathie oder Verständnis, welcher Frauen mit Behinderung ausschliesst. Im Kommentar-Bereich eines Artikels auf "The F-Word", einer feministischen Webseite aus dem Vereinigten Königreich, bestätigen verschiedene Userinnen, dass man es als Frau mit Behinderung unnötig schwer hat, wenn man sich für Frauenrechte engagieren möchte. Eine der Userinnen berichtet dort, dass die Räumlichkeiten ihrer örtlichen Gruppe zwar barrierefrei sind, die Tatsache, dass ihr persönlicher Assistent sie bei den Treffen unterstützen muss, aber für Probleme sorgt. "Mein Lebensgefährte ist mein Assistent und ich bin in den meisten Situationen auf seine Begleitung angewiesen.", schreibt sie. "Jede örtliche Feministen-Gruppe, die ich bis jetzt gefunden habe, darf ausschliesslich von Frauen besucht werden. Wenn mein Assistent nicht teilnehmen kann, kann ich auch nicht teilnehmen und das war's dann... Ich verstehe zwar diese Restriktion, gleichzeitig denke ich aber, dass sie sich etwas flexibel zeigen sollten, wenn es um Frauen mit Behinderung geht.

Dieser Mangel an Verständnis, den so viele Mainstream-Feministinnen zeigen, kann sogar in die radikalste Form von Abweisung übergehen, mit der Frauen mit Behinderung konfrontiert sind: Ableismus (Behindertenfeindlichkeit). "Wenn es um das Thema Mehrfachdiskriminierung geht, scheinen viele Feministinnen einfach zu vergessen, dass Behinderung und Ableismus Themen sind, mit denen auch sie sich befassen sollten.", sagt Elsa S. Henry, die den bekannten Blog Feminist Sonar betreibt. Henry sagt, sie sei aktiv aus feministischen Diskussionen hinausgedrängt worden, nachdem sie die Gegenwart von behindertenfeindlichen Tendenzen aufgezeigt habe. Das ist nicht überraschend, bedenkt man die Zahl der Feministinnen in der Pop-Kultur, die sich selber an behindertenfeindlichem Verhalten beteiligen. So verlor beispielsweise die englische Autorin und Kritikerin Caitlin Moran einige Fans, nachdem sie ihrem Teenager-Ich in ihrer Autobiographie die "freudvolle Überschwänglichkeit einer Zurückgebliebenen" attestierte. Sie gab darin auch stigmatisierende Kommentare über transsexuelle Menschen und Intersektionalität im Allgemeinen zum besten.

"Wenn sich Feministinnen an behindertenfeindlichen Vorbildern orientieren und sich der Einsicht verweigern, dass die Art, wie sie Menschen mit Behinderung behandeln falsch ist, untergraben sie damit die Fähigkeit behinderter Feministinnen, sich wirksam zu engagieren.", sagt Henry.

Der Konflikt wird besonders angeheizt, wenn Feministinnen mit Behinderung sich mit dem Thema Reproduktive Rechte auseinandersetzen. - Eines der wichtigsten Themen des Mainstream-Feminismus'. Zwar war die Mehrheit der behinderten Aktivistinnen mit denen ich gesprochen habe, für das Recht auf Abtreibung (Pro-Choice), aber einige der Argumente, mit denen Feministinnen die Legalisierung von Abtreibungen begründen, lösten in ihnen einen schwerwiegenden inneren Konflikt aus. "Jedes Mal, wenn die Abtreibungspolitik in den Medien thematisiert wird, bringt unweigerlich irgendjemand das Argument, dass Abtreibung legalisiert werden sollte, damit Frauen ihre behinderten Babies abtreiben können.", sagt Henry.

"Die reproduktiven Rechte stellen ein komplexes Thema für Menschen mit Behinderungen dar.", sagt Allie Cannington, SL-Aktivistin und Mitbegründerin des Projektes #DisabilitySolidarity. "Obwohl Behindertenrechtler und Aktivisten ihre Arbeit auf dem Prinzip der Selbstbestimmung und körperlichen Autonomie begründen, Ist es doch... verzwickt, wenn es immer noch zu Abtreibungen kommt, die einzig und allein dazu dienen, den Fötus aufgrund einer Behinderung zu eliminieren."

Das Selbe gilt für Zwangssterilisierungen von Frauen mit Behinderung, welche weitaus gängiger sind, als den Leuten bewusst ist. "Du wirst niemals irgendeine Frau - irgend eine Feministin - sagen hören, 'Ja, es geht in Ordnung, wenn Eltern ihre Tochter zu einer Sterilisation zwingen.'", sagt Woodward. "Aber wenn diese Tochter eine Behinderung hat, dann heisst es bei so vielen Menschen plötzlich, 'Naja, wissen Sie, dafür wird es schon einen guten Grund geben,' oder 'Ich kann verstehen, warum so etwas passieren könnte.' Das löst nicht das gleiche Ausmass an Empörung aus."

Es gibt derzeit allein in den Vereinigten Staaten mehr als 27 Millionen Frauen mit Behinderung - und ihre Zahl wächst. Jeder kann sich jederzeit eine Behinderung zuziehen und das Unrecht, das Frauen mit Behinderung widerfährt, ist Unrecht, das auch Ihnen eines Tages wiederfahren könnte.

"Nichtbehinderte Feministinnen sollten über ihr Privileg und ihre Behindertenfeindlichkeit nachdenken und den Worten von Frauen mit Behinderung Beachtung schenken.", sagt Caitlin Wood. "Weil wir hier sind und wir immer hier waren und um uns um die Aufmerksamkeit der Menschen bemühen."

Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: thedailybeast.com

Siehe auch: #YesAllWoman betrifft auch Frauen mit Behinderung

#YesAllWoman betrifft auch Frauen mit Behinderung

Vorwort des Übersetzers


Unter dem Hashtag #YesAllWomen posten seit einigen Monaten US-amerikanische Twitter-Nutzerinnen Beispiele von Frauenfeindlichkeit und gegen Frauen gerichtete Gewalt. Es handelt sich gewissermassen um das US-Gegenstück zur deutschsprachigen #Aufschrei-Kampagne.

Als nun aber die US-amerikanische SL-Aktivistin Stephanie Woodward versuchte, Gewalt gegen Frauen mit Behinderung zum Thema zu machen, stiess sie damit auf viel Ablehnung. Eine interessante Kontroverse über Feminismus und Frauen mit Behinderung, von der wir nur lernen können, da sie hierzulande genauso gut hätte stattfinden können.

#YesAllWoman betrifft auch Frauen mit Behinderung


Häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Rape Culture haben in letzter Zeit sehr viel Aufmerksamkeit bekommen, besonders durch den Hashtag #YesAllWomen, der eine ernstzunehmende Eigendynamik entwickelt hat. Ich bin froh, dass sich diese Themen gerade jetzt auf dem gesellschaftlichen Radar befinden, denn als Verfechterin für ein Ende von häuslicher Gewalt und Rape Culture beschäftige ich mich damit täglich.

Auch als Frau beschäftige ich mich damit täglich. Jeden Tag treffe ich Vorkehrungen, um mich vor sexuellen Übergriffen zu schützen, die sich die meisten Männer nicht einmal vorstellen können. Jeden Tag muss ich mich mit Aussagen und Verhaltensweisen auseinandersetzen, die die Rape Culture aufrechterhalten.

Also ja, als Frau und als Juristin bin ich froh.

Aber als Frau mit Behinderung und als Verfechterin für ein Ende von gegen Frauen mit Behinderung gerichteter häuslicher Gewalt bin ich enttäuscht.

Ich bin enttäuscht, denn diese Diskussionen über die Beendigung der Gewalt, das stoppen der Übergriffe, die Ermächtigung von Frauen und das ganze Gewäsch haben Frauen mit Behinderung niemals eingeschlossen.

Das ist ein riesiges Problem.

Warum?

Naja, das hat viele Gründe, hier ein paar Beispiele:

- Frauen mit Behinderung tragen ein mindestens doppelt so hohes Risiko, Opfer von häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen zu werden, als Frauen ohne Behinderung.

- Frauen mit Behinderung erfahren Missbrauch, welcher länger andauert und schwerwiegender ist, als Frauen ohne Behinderung.

- Frauen mit Behinderung zeigen häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe seltener an. Ungefähr 70% bis 85% der gegen Menschen mit Behinderung gerichteten Missbrauchsfälle werden niemals angezeigt.

- Studien besagen, dass 80% der Frauen mit Behinderung sexuelle Übergriffe erlebt haben.

- Eine Studie hat gezeigt, dass 47% der sexuell missbrauchten Frauen mit Behinderung mehr als zehn verschiedene Übergriffe gemeldet haben.

- Eine andere Studie hat aufgedeckt, dass nur 5% der angezeigten Verbrechen gegen Menschen mit Behinderung strafrechtlich verfolgt wurden, während dem es bei gegen Menschen ohne Behinderung gerichteten Verbrechen 70% waren.

- Frauen mit Behinderung werden oft als schwach, unerwünscht oder asexuell wahrgenommen, was uns besonders anfällig für sexuelle Gewalt macht.

- Einige Täter haben angegeben, dass sie ihren behinderten Opfern mit der Vergewaltigung, bzw. dem sexuellen Übergriff einen Gefallen getan haben, weil sonst niemand Sex mit uns haben würde, dass wir nicht auf anderen Wegen Sex haben könnten oder aber sie haben uns noch nicht einmal als menschliche Wesen betrachtet.

- Missbrauch hat einen schwerwiegenderen Einfluss auf die Selbstachtung von Frauen mit körperlicher Behinderung als auf Frauen ohne Behinderung.

- Viele Frauen mit Behinderung haben geringere finanzielle Mittel zur Verfügung, was ihr Risiko missbraucht zu werden ebenfalls erhöht.

- Frauen mit Behinderung sind konfrontiert mit begrenzten Möglichkeiten aus einer Missbrauchs-Situation zu entkommen und Zugang zu Programmen für misshandelte Frauen zu finden.

- Frauen mit Behinderung sind auch Frauen. Unsere Stimmen, Gedanken, unsere Körper und unsere Leben sind von Bedeutung.

Ich könnte damit fortfahren, Fakten für Sie aufzuzählen, aber dann würde ich noch die ganze Nacht hier sitzen. Nein, ich würde noch Jahre hier sitzen. Der Punkt ist, dass Frauen mit Behinderung Frauen sind. Wir sind Menschen. Wir sind sexuelle Wesen. Und wir erleben häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe und wir erleben das alles viel häufiger als irgend eine andere Gruppe.

Aber niemand spricht über uns. Niemand spricht mit uns.

Probleme werden nicht gelöst, wenn niemand von der Existenz dieser Probleme weiss. Dadurch, dass wir nicht gegen die Gewalt, die Frauen mit Behinderung widerfährt, Stellung beziehen, ignorieren wir sie im Grunde genommen.

Nein, wir tun mehr, als sie zu ignorieren. Wir billigen sie.

Wenn Frauen ohne Behinderung sich nicht erheben, um über den Missbrauch von Frauen mit Behinderung zu sprechen und ihn zu beenden, so billigen sie diesen Missbrauch. Genauso, wie Männer die Rape Culture billigen, wenn sie sich nicht erheben, um darüber zu sprechen und ihr ein Ende zu setzen.

So wie Vergewaltigung und häusliche Gewalt kein reines Frauenproblem ist, sind auch Vergewaltigung und häusliche Gewalt gegen Frauen mit Behinderung nicht nur ein Problem von Frauen mit Behinderung. Beides sind gesellschaftliche Probleme. Die Gesellschaft muss das in Ordnung bringen. Männer und Frauen - Mit und ohne Behinderung - müssen zusammen an diesen Problemen arbeiten.

Also los, sprechen wir über häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe gegen Frauen mit Behinderung, denn #YesAllWomen bezieht sich auch auf Frauen mit Behinderung.

Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: Ms. Wheelchair Florida 2014

Siehe auch: #YesAllWomen, aber nicht wirklich: Wie der Feminismus Frauen mit Behinderung aussenvorlässt

Sonntag, 14. Dezember 2014

Grossbritannien: Jetzt ist es amtlich: Das Workfare-System der Konservativen hilft nicht bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt.

Junge Arbeitssuchende, die dazu gezwungen wurden 13 Wochen lang unbezahlt zu arbeiten haben keine besseren Chancen am Ende einen Job zu bekommen, als diejenigen, die die Teilnahme am Workfare-Programm verweigern.

Der britische Arbeitsminister Iain Duncan Smith möchte sein Workfare-System im ganzen Land etablieren, aber eine Untersuchung des in London angesiedelten Probelaufes zeigt, dass es nicht viel nützt.

Nur 25% jener Leute, die das Workfare-Programm komplett durchlaufen haben, finden danach einen Job

Das Workfare-System zwingt junge Leute mit weniger als sechs Monaten Berufserfahrung dazu, bei einem 13 wöchigen Workfare-Programm mitzumachen, um Arbeitslosengeld beanspruchen zu können. Es wird angenommen, dass junge Leute in dieser Zeit ihre Arbeitsfähigkeiten verbessern können, aber wie dieser Bericht zeigt, zahlen sich Workfare-Platzierungen für die Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt nicht notwendigerweise aus.

Nur ein Viertel jener Leute, die ein 13 wöchiges Workfare-Programm komplett durchlaufen haben, finden danach einen Job. Die Mehrheit von ihnen hat in gemeinnützigen Brockenstuben gearbeitet.

Von denjenigen, die sich nicht am Workfare-Programm beteiligt haben, fanden 44% einen Job. Sogar diejenigen, die ihr 13-wöchiges Workfare-Programm vorzeitig abgebrochen haben, kamen besser weg: 60% von ihnen haben eine Anstellung gefunden. Die Untersuchung gibt nicht im Detail wieder, warum die Leute das Programm abgebrochen haben, aber es ist anzunehmen, dass einige von ihnen es getan haben, weil ihre Stellensuche erfolgreich war.

Ältere, erfahrenere Jugendliche haben unabhängig davon, ob sie an Workfare-Programmen teilgenommen haben oder nicht, Arbeit gefunden.

Eine wichtige Feststellung der Untersuchung besteht darin, dass die älteren, 21- bis 24-Jährigen Arbeitslosen unter den Jugendlichen, welche bereits etwas Berufserfahrung vorweisen können, bessere Chancen auf einen nachhaltigen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt haben - unabhängig von der Beteiligung an Workfare-Programmen.

Alles in allem haben 45% der Leute, die bei einem Workfare-Programm angefangen haben, einen Job gefunden. 44% jener Leute, die die Teilnahme an einem solchen Programm von Anfang an verweigert haben, haben ebenfalls Jobs gefunden. - Ja, da gibt es eine Differenz, aber sie beträgt lediglich 1%.

Das Scheitern dieses Probelaufs ist ein schwerer Schlag für die Politik der Konservativen

Das Workfare-Programm "Day One Support for Young People Trailblazer" der Regierung lief ab November 2012 während acht Monaten. Aber Evaluationsbericht und Analyse des Arbeits- und Rentenministeriums wurden erst letzten Monat veröffentlicht - und stellen nicht gerade eine uneingeschränkte Vertrauensbekundung dar.

Die Resultate wurden zuerst auf politics.co.uk journalistisch aufgearbeitet, wo Adam Bienkov feststellte: "neither City Hall nor the DWP seem very keen to highlight the findings of this report, with no mention at all to be found on City Hall's website in the past month." Deutsch: "Weder das Londoner Bürgermeisteramt, noch das Arbeitsministerium scheinen besonders scharf darauf zu sein, die Ergebnisse dieser Untersuchung ins Rampenlicht zu setzen, da sie auf der Webseite der Stadt London im letzten Monat mit keinem Wort erwähnt wurden."

Die Statistiken stammen aus einer unabhängigen Analyse von TNS BMRB, einem renommierten britischen Marktforschungsinstitut.

Die Hälfte der jungen Arbeitssuchenden verweigerten die Teilnahme und wurden sanktioniert

Fast die Hälfte (47%) der arbeitslosen jungen Leute, denen die 13 Wochen unbezahlte Arbeit angeboten wurden, haben nicht teilgenommen. Sie haben sich entweder von vornherein dazu entschlossen, auf ihr Arbeitslosengeld zu verzichten, oder sind am ersten Tag ihres Einsatzes einfach nicht aufgetaucht und wurden mit Sanktionen bestraft.

In einem Fall wurde ein Nicht-Starter mit Sanktionen bedroht, als er am ersten Tag seines Workfare-Einsatzes nicht erscheinen konnte, weil er ein Vorstellungsgespräch hatte! "Es war ein Bisschen merkwürdig", erzählte er den Interviewern von TNS, "Ich musste am nächsten Tag zu einem Vorstellungsgespräch und die haben mir gesagt, ich müsse absagen, oder man würde mich bestrafen."

Von den meisten jungen Leuten wurde erwartet, dass sie ihr Workfare-Programm innerhalb von zwei Tagen beginnen

Die Hälfte der Befragten empfanden den Start des Programmes als zu kurzfristig und zwei Drittel empfanden den Zeitaufwand (30 Stunden pro Woche, lange Pendelzeiten nicht mit einberechnet) als so gross, dass er für die Suche nach bezahlter Arbeit hinderlich gewesen sei.

"Ich habe keine Zeit, um mich für Stellen zu bewerben"

Ein Antragsteller, der das 13-wöchige Programm abgeschlossen hat, meinte: "Während dem Programm hatte ich keine Zeit mich für Stellen zu bewerben, weil ich darauf fokussiert war, früh genug aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Und als ich abends nach Hause kam, war ich viel zu müde... Das hat meine Chancen auf einen Job verringert."

Mehr als die Hälfte derjenigen, die zu einem Workfare-Anbieter kamen, hatten das Gefühl, dass ihre Platzierung nicht zu ihnen passte.

Aber das Arbeitsministerium denkt immer noch, dass es funktioniert

Aber die Auswirkungseinschätzung des Arbeits- und Rentenministeriums kam zum Schluss, dass das Workfare-Programm die Zahl der Antragssteller unter den 18 bis 24-Jährigen um 11% reduziert hat. Ausserdem sei die Beschäftigungsquote bei den jungen Leuten während acht Wochen um atemberaubende 0,8% gestiegen. So that's alright then.

Datenquelle: Evaluation of the "Day One Support for Young People Trailblazer", United Kingdom - Department for Work & Pensions

Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: mirror.co.uk

Siehe auch: Stichwort "Workfare" auf selbstbestimmung.ch

Montag, 8. Dezember 2014

Mark Zumbühl, Pro Infirmis: "Wir hätten keinen Einfluss mehr nehmen können"



Im Zusammenhang mit der aktuellen Kampagne "#IchBinLeer" der Pro Infirmis, tauchte von verschiedenen Seiten her die Frage auf, warum die PI dabei nicht mit der auf das Thema psychische Krankheiten spezialisierten Stiftung Pro Mente Sana zusammengearbeitet habe. Mark Zumbühl, Mitglied der Geschäftsleitung  der Pro Infirmis, nimmt dazu wie folgt Stellung:

"Wir wurden im Frühjahr 2014 von PMS angefragt, ob wir uns an der Kampagne "Wie geht's dir" beteiligen wollen. Damals lag die PMS-Kampagne aber bereits pfannenfertig vor, sodass wir keinen Einfluss mehr hätten nehmen können, sondern uns nur noch am millionenschweren Budget hätten beteiligen können. Die erwähnte Kampagne entspricht aber nicht der Kampagnenkultur von Pro Infirmis, weshalb wir uns entschieden haben, uns nicht daran zu beteiligen. Überdies hatten wir zu diesem Zeitpunkt (Frühjahr 2014) bereits entschieden, auf den 3.12. eine eigene Kampagne zum Thema Psychische Behinderung zu starten. PI startet traditionsgemäss ihre Kampagnen immer am 3. Dezember (Int. Tag der Menschen mit Behinderung). Die Vorwürfe, wir wollten PMS das „Wasser abgraben“ (Kritik-O-Ton) in diesem Thema sind absurd."

Zum Vorwurf, die Pro Infirmis habe sich bislang kaum um die Belange von Menschen mit psychischer Behinderung gekümmert, sagt Zumbühl:

"Pro Infirmis führte 2005 schweizweit die Sozialberatung für Menschen mit psychischen Behinderungen ein. Später baute PI das Angebot in Richtung von finanzieller Direkthilfe und begleitetem Wohnen für diese Betroffenen  aus. Zudem ist Pro Infirmis Dachorganisation weiterer regionaler Anbieter wie PSAG in Basel oder der Traversa in Luzern. Im laufenden Jahr beträgt der Anteil der psychisch Behinderten Menschen  in der Arbeit von Pro Infirmis rund 30 %. Das heisst, jede dritte Person mit einer Behinderung  in unserer Beratung, Begleitung und Unterstützung  ist von einer psychischen Behinderung betroffen. Nachzulesen im Jahresbericht, der auf www.proinfirmis.ch aufgeschaltet ist.

Wir arbeiten überdies mit PMS eng zusammen, so zum Beispiel in einem Dokumentarfilm-Projekt mit dem Arbeitstitel „Psychische Erschütterung“, der im Herbst 2015 erscheinen wird.

Wir haben uns vor der Umsetzung unserer Kampagne intensiv mit Betroffenen und Fachleuten unterhalten, wie es sich für die grösste Fachorganisation im Thema Behinderung gehört. So ist der Monolog im Film eine praktisch 1:1-Wiedergabe von Aussagen eines schwer depressiven Mannes."

Zum Mailverkehr mit Marie Baumann von ivinfo hält Mark Zumbühl, alias "Herr X" fest:

"Ich habe grundsätzlich keine Probleme mit Kritik, c’est le ton, qui fait la musique."

Siehe auch:

Die neue Kampagne von Pro Infirmis (Pressemitteilung Pro Infirmis zum Kampagnen-Start)

Ein depressiver Zombie soll für Pro Infirmis die Marke stärken und die Kasse klingeln lassen (Kritik von ivinfo)

Kampagne "Wie geht's Dir?" (Hauptträger: Pro Mente Sana & Kanton Zürich)

Mittwoch, 12. November 2014

"Meine Zukunft gehört mir!" - 1. Schweizerische Konferenz für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung

"Meine Zukunft gehört mir!"

Willkommen!


«Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» 

So sagt es die Bundesverfassung der Schweiz. Damit sind auch Mädchen und Frauen mit einer Behinderung gemeint! Wir von avanti donne und avanti girls wollen mithelfen, dass alle Menschen mit Behinderung, ob Mädchen oder Junge, Frau oder Mann, so viele Chancen haben wie ihre nicht behinderten Kolleginnen und Kollegen.

Dieses Jahr feiern die avanti girls ihren 10. Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht: eine eigene Konferenz für Mädchen und junge Frauen, die mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit leben. Die Konferenz findet an der Swiss Handicap-Messe am Samstag, 29. November 2014, in Luzern statt und trägt den Titel:

«Meine Zukunft gehört mir!»

Es geht also um dich – um deine Pläne, deine Wünsche und deine Träume! Bist du zwischen 13 und 26 Jahre alt? Dann melde dich noch heute an, alleine oder auch mit einer Freundin oder mit deiner Schwester. Ein tolles Programm erwartet dich/euch! Egal, welche Art von Handicap du hast: An der Konferenz triffst du andere nette Mädchen und Frauen mit Behinderung, und bestimmt findest du auch ein Thema, das dich gerade besonders bewegt.

Wir freuen uns auf dich!

Das OK von avanti donne & girls: Angie, Dominique und Jaelle

Was dich erwartet


13.00 Uhr Türöffnung im Forum 2 (Halle 1)

13.15 Uhr Los geht’s! – «Meine Zukunft gehört mir!» Begrüssung und Auftakt mit Jaelle Eidam, Vorstandsmitglied avanti donne, Bereich Junge Frauen

13.45 Uhr avanti donne und avanti girls: Ein Netzwerk auch für dich! Dominique Ruesch, Leiterin Bereich avanti girls

14.00 Uhr Themen-Posten mit Diskussionen und kreativen Arbeiten zu Fragen, die dich bewegen. Du kannst 1, 2 oder alle 3 Posten besuchen, ganz nach Lust und Laune. (Details siehe rechte Seite.)

16.15 Uhr Rückblick aus den Gruppen: Das nehme ich mit!

16.45 Uhr Bye-bye und auf Wiedersehen!

Die Themen-Posten


1. Schönheit und Gesundheit


Entdecke deine funkelnden Seiten! Wir betrachten uns selbst mit liebevollen Augen und tauschen Tipps und Tricks aus, wie wir unsere ganz persönliche Schönheit zur Geltung bringen können. In der Foto-Ecke kannst du von Profi-Fotografin Flavia Trachsel ein tolles Bild von dir machen lassen. Zusätzlich hast du an diesem Posten die Möglichkeit, Fragen zu deiner Gesundheit zu stellen.

2. Schule, Ausbildung und Beruf


Es läuft nicht immer rund in der Schule? Du weisst nicht, welcher Beruf zu dir passt? Die IV-Berufsberaterin oder der BIZ-Berater empfiehlt dir eine Ausbildung, die dich nicht wirklich anspricht? An diesem Posten bekommst du Infos und Tools, die dir helfen, deine berufliche Zukunft möglichst selbstbestimmt anzugehen. Auch kannst du mit anderen betroffenen Frauen Erfahrungen austauschen.

3. Freundschaft und Beziehung


Was macht eine gute Freundschaft oder Beziehung aus? Wie finde ich einen Freund/eine Freundin? Wie kann ich meine Gefühle ausdrücken? Wie meine Sexualität leben? Welche Rolle spielt meine Behinderung bei all dem? Gemeinsam suchen wir Antworten auf diese und andere Fragen rund ums Thema Freundschaft und Beziehung.

Wenn du zwischen den einzelnen Posten eine Pause brauchst, kannst du in der Bücher-Ecke stöbern, einen Film anschauen, an unserem Zukunfts-Gästebuch kreativ mitarbeiten oder dich am Geburtstagsbuffet erfrischen. Es ist für alle etwas dabei!

Organisatorisches


Konferenz: Die Zukunfts-Konferenz der avanti girls findet von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr im Forum 2 (F2, Halle 1, 1. Stock) der Swiss Handicap-Messe statt. Die Teilnahme an der Konferenz ist gratis!

Eintritt Swiss Handicap-Messe: Über avanti donne kannst du dir kostenlos dein Ticket für die Messe besorgen: www.avantidonne.ch (Rubrik «Veranstaltungen – Swiss Handicap»)

So kommst du hin:

Mit dem ÖV:
Ab Bahnhof Luzern Bus Nummer 20 bis Haltestelle «Allmend/Messe» (Fahrzeit 8 Minuten) oder S-Bahn Linien S4 und S5 bis Haltestelle «Allmend/Messe» (Fahrzeit 2 Minuten).

Mit dem Auto:
Autobahn, Ausfahrt Luzern-Horw benützen – der Signalisation «Allmend/Messe» folgen.


Siehe auch

Flyer downloaden

Freitag, 7. November 2014

Kein Geld mehr für Opfer der Psychiatrie (K-Tipp, 08.10.2014)

Die Invalidenversicherung verlangt von der Beratungsstelle Psychex Patientendaten


Psychex unterstützt Patienten, die gegen ihren Willen in psychiatrischen Kliniken eingesperrt sind. Jetzt will der Bund den Finanzhahn zudrehen. Fachleute protestieren.

Logo Psychex

Es geschah an einem Gründonnerstag: Ein Notfall - psychiater wies Brigitte von Au (Name geändert) gegen ihren Willen in eine Klinik ein. Die 50-Jährige war damals in einer seelischen Krise und sagte dem Notfalldienst am Telefon, sie wolle sich das Leben nehmen.

In der Klinik fühlte sich Brigitte von Au vom Personal gedemütigt. «Ein Arzt herrschte mich an: ‹Hier befehlen wir, Sie haben nichts zu sagen.›» Von Au wandte sich an die Beratungsstelle Psychex. Seit 1987 vermittelt der Verein Psychex Anwälte, die gegen die ungerechtfertigte Einsperrung von Patienten Rekurs einlegen.

Davon profitierte auch Brigitte von Au. «Es war eindrücklich, wie schnell Psychex eine Lösung fand», sagt sie. «Ich unterschrieb eine Vollmacht. Drei Stunden später konnte ich heimgehen.»

Immer mehr Patienten suchen Hilfe bei Psychex: Laut dem Jahresbericht erhielt der Verein letztes Jahr rund 4800 Anrufe von Klienten – 2000 mehr als vor fünf Jahren.

Doch jetzt ist die wichtige Arbeit gefährdet. Denn das Bundesamt für Sozialversicherungen will den Geldhahn zudrehen. Bisher erhielt der Verein pro Jahr 120 000 Franken von der Invalidenversicherung. Im August drohte das Bundesamt, die zweite Rate der jährlichen Subvention nicht zu zahlen. Grund: Psychex hatte sich geweigert, dem Bundesamt eine Liste mit Namen, Vornamen, Geschlecht und Geburtsdatum sämtlicher Klienten zu geben. Das Amt gab an, es brauche die Liste, um zu prüfen, ob Psychex berechtigt sei, Subventionen zu erhalten. Geld vom Bund gibts nur, wenn mindestens die Hälfte der Klienten IV-Bezüger sind.

«Eine absurde Forderung»

Fachleute kritisieren das Vorgehen des Bundesamts scharf. Der Zürcher Patienten anwalt Kurt Pfändler findet es «absurd», dass das Bundesamt die Namen der Psychex-Klienten verlangt: «Patienten gehen davon aus, dass Beratungsstellen ihre Angaben nicht an andere Stellen weitergeben.» Der St. Galler Rechtsanwalt Roger Burges, Generalsekretär des Vereins Psychex, sagt: «Die Aufforderung, Namen bekannt zu geben, kommt einer Anstiftung zur Ver letzung des Berufsgeheimnisses gleich.» Das Bundesamt brauche die Namen nicht, denn es sei allgemein bekannt, dass die Mehrzahl der Psychiatriepatienten IV-Rentner seien. Bisher habe der Bund nie Namen verlangt – auch nicht von anderen Beratungsstellen: «Es verstösst gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, dass nur Psychex eine solche Auskunft geben muss.»

Dazu kommt: Die Namen der Psychex-Klienten sind besonders sensible Personendaten. Der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy, Präsident des Vereins Grundrechte. ch, erklärt: «Patienten, die Psychex anrufen, outen sich als Betroffene der Zwangspsychiatrie.» Das Bundesamt habe kein Recht, zu wissen, ob jemand in der Psychiatrie stecke. Margrit Kessler, Präsidentin von SPO Patientenschutz, warnt: «Es wäre eine schwere Verletzung des Datenschutzes, wenn Psychex die Namen von psychisch Kranken dem Bund geben würde.» Psychex-Gründer Edmund Schönenberger wirft dem Bundesamt vor, seinen Verein zu schikanieren, weil es mit seiner Kritik an der Psychiatrie nicht einverstanden sei.

Nur Stichproben bei andern Organisationen

Eine Umfrage bei Behindertenverbänden gibt den Kritikern recht. Pro-Infirmis-Sprecher Mark Zumbühl: «Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat uns nie aufgefordert, eine Liste mit allen Klienten zu senden.» Das Amt schaue die Namen der Klienten nur stichprobenmässig an. Auch die Behindertenorganisation Integration Handicap berichtet bloss von Stichproben.

Laut Schönenberger hat Psychex nur noch 10000 Franken in derKasse. Unter dem Druck ist der Verein eingeknickt: Schönenberger will dem Bund die verlangten Daten liefern. Um das zu ermöglichen, verlangte Sekretär Burges bei der Anwaltskammer St. Gallen, ihn vom Anwaltsgeheimnis zu entbinden.

Zur Kritik der Fachleute sagt Harald Sohns, Mediensprecher des Bundesamts für Sozialversicherungen, es sei in den Leistungsverträgen mit Psychex festgehalten, dass der Verein belegen müsse, dass er für Menschen mit einer Behinderung tätig ist. Das Subventionsgesetz
unterstütze diese Forderung. Der Datenschutz sei gewährleistet, denn das Bundesamt werde die Namen der Klienten vertraulich behandeln. Für eine «ernsthafte Kontrolle» genüge es nicht, die Zahl der unterstützten Personen zu melden. Das Bundesamt überprüfe alle subventionierten Organisationen. Es liege an Psychex, den Klienten mitzuteilen, dass der Verein ihre Personalien dem Bundesamt auf Anfrage bekannt geben müsse.

Andreas Gossweiler

Erschienen im K-Tipp vom Mittwoch, 8. Oktober 2014. Herzlichen Dank an die Redaktion des K-Tipps für die Genehmigung, den Artikel zu rebloggen.

Siehe auch:

Artikel als PDF downloaden

Psychex - Juristische Hilfe für Patienten, die gegen ihren Willen in eine Klinik eingesperrt sind.

Patientenstelle - Beratung für Patienten.

Pro Mente Sana - Beratung für psychisch Kranke und Angehörige.

Vask Schweiz - Unterstützung für Angehörige von psychisch Kranken.

Zopph - Verein für Psychiatriebetroffene.

Dienstag, 28. Oktober 2014

Miss & Mister Handicap Wahlen: Das Potential junger Menschen darf nicht verheizt werden.

Letztes Jahr fand keine Miss & Mister Handicap-Wahl statt. Das war für mich erholsam, denn diese Wahlen lösen bei mir immer einen inneren Konflikt aus. Der Aktivist in mir ärgert sich natürlich über den boulevardesken, gänzlich unpolitischen Charakter dieser Veranstaltung und der damit verbundenen Berichterstattung. Ich kann mir Sendungen wie Glanz & Gloria nicht anschauen, weil ich ihren meist oberflächlichen, belanglosen Inhalt nicht ertrage. Die Miss & Mister Handicap-Wahlen zwingen mich dann aber aus beruflichen Gründen, diese Abneigung bei Seite zu legen und sie mir eben doch anzuschauen. Das führt dann jeweils zum einen oder anderen boshaft-sarkastischen Kommentar von mir, welcher natürlich sofort erboste Reaktionen von Leuten auslöst, die diese Veranstaltung total toll finden.

Wenn das dann passiert, krebse ich manchmal zurück und nehme mich an der eigenen Nase. Schliesslich kritisiere ich ja selber die Behindertenbewegung dafür, dass wir uns in elitärer Runde und unter Ausschluss der Öffentlichkeit über Inklusion unterhalten, anstatt die breite Bevölkerung (oder wenigstens unsere eigene Basis) einzubeziehen. Medien wie die Glückspost, Schweizer Illustrierte oder Glanz & Gloria sind nun mal der kleinste gemeinsame Nenner und somit doch Ideale Plattformen, um die Gesellschaft zu erreichen und unterschwellig zu verändern. Da kann ich doch nur froh sein, dass es da eine Organisation im Behindertenkuchen gibt, die es mit zwei sympathischen Gesichtern geschafft hat, diese Medienkanäle zu nutzen.

Wer wird von wem wozu genutzt?


Als ich mir dann aber brav das Glanz & Gloria-Interview mit den beiden Siegern vom letzten Sonntag angeschaut habe, begann sich mein innerer Konflikt langsam aufzulösen. Während dem die frischgebackene Miss Andrea Berger einigermassen souverän blieb, rannte Dani Fohrler bei Mister Handicap Felice Mastrovita mit seinen klischeebehafteten, indiskreten Fragen offene Türen ein und stocherte ausführlich in dessen noch nicht verheilten seelischen Wunden herum, obwohl dieser stellenweise den Tränen nahe zu seien schien.

Das hat Dani Fohrler natürlich nicht aus Boshaftigkeit getan, sondern weil er so jene Antworten erhalten hat, die die Zuschauer einer solchen Sendung hören wollen: Jene, die ihr Bild vom "armen Behinderten", der sein Schicksal "tapfer meistert" zementieren und sie eben gerade nicht dazu zwingen, ihr eigenes Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung - sei es nun im Alltag oder auch an Abstimmungssonntagen - zu hinterfragen.

Ich nahm diese Erkenntnis zum Anlass, mir die einzelnen Kandidatenprofile etwas genauer anzuschauen. Ich war positiv überrascht: Die meisten Kandidierenden hatten erstaunlich konkrete politische Anliegen auf Lager. Von "Gleichstellung", "Inklusion", "Barrierefreiheit", oder "beruflicher Integration" war da die Rede. Die beiden Gewählten druckten sich da weitaus unkonkreter aus: Andrea Berger wollte die "Lücke" zwischen Menschen mit und ohne Behinderung schliessen, Felice Mastrovita warb mit dem "Abbau von Berührungsängsten" für sich. - Wichtige, aber allgemein und unpolitisch formulierte und damit harmlos wirkende Punkte. Das soll jetzt nicht heissen, dass die Beiden auch so harmlos denken. Das kann man anhand einiger Sätze auf einer Webseite unmöglich beurteilen. Aber das "Abschreckungspotential" der beiden Gewählten war wohl von allen Kandidierenden am geringsten.

Das Problem ist: Letzten Endes wählen bei dieser Veranstaltung eben nicht Menschen mit Behinderung die beiden BotschafterInnen, von denen sie sich inhaltlich am meisten angesprochen fühlen. Wie bei jedem anderen Schönheitswettbewerb auch, wählt die breite, grösstenteils nichtbehinderte Öffentlichkeit. Und die wählt natürlich - womit wir wieder beim Anfang wären - den kleinsten gemeinsamen Nenner. Also den "armen Behinderten", der sein "schweres Schicksal" "tapfer meistert", dabei dankbar ist für jedes Almosen und dem es natürlich nie in den Sinn kommen würde, irgendeine Forderung nach rechtlichen Verbindlichkeiten oder irgendeine Kritik an die Gesellschaft zu richten.

Und ganz unabhängig davon, ob die beiden Gewählten diese Rolle spielen wollen oder nicht, ob sie nun konkrete Anliegen haben oder nicht: Man wird auch während dieser Amtszeit wieder alles tun, um sie in diese Rolle hineinzudrängen und von ihnen das zu hören zu bekommen, was man hören will. Etwas, das man natürlich gerade mit jungen, medienunerfahrenen Menschen besonders gut machen kann.

Den Spiess umdrehen


Deswegen auf die Organisatoren dieser Veranstaltung einzuschlagen, wäre aber der vollkommen falsche Ansatz. Viel eher sollten wir von ihnen lernen. Während dem nämlich die Behindertenbewegung chronisch über fehlenden Nachwuchs klagt, melden sich bei der Miss Handicap-Organisation jedes Jahr junge Menschen, die die behindertenpolitischen Probleme zumindest grob benennen können und Interesse daran äussern, auf eine Veränderung hin zu arbeiten. Warum sind wir nicht im Stande, diese motivierten jungen Menschen abzuholen? Wir sollten nicht zulassen, dass ihr Potential und ihre Leistungsbereitschaft durch diesen Schönheitswettbewerb und seine Nachwehen verheizt werden.

Eine Möglichkeit wäre, eine Zusammenarbeit mit der Miss Handicap-Organisation anzustreben. Würden die Kandidierenden beispielsweise Kurse in politischer Selbstvertretung und im Umgang mit Medien erhalten, möglicherweise mit erfahrenen AktivistInnen als Gastreferenten, könnte man diese hübschen jungen Gesichter auch mit etwas politischer Schlagkraft ausstatten. Und dann liesse sich eben tatsächlich über diesen Kanal für die Anliegen von Menschen mit Behinderung werben, anstatt die vor Mitleid triefenden Klischees des vorletzten Jahrhunderts weiter zu bedienen. Das das Grundsätzlich möglich ist, sehen wir an Beispielen aus Deutschland: Da sind junge, sympathische Leute wie Raul Krauthausen oder Laura Gehlhaar zu finden, die ihre Anliegen formulieren und konkrete Probleme aufzeigen können und trotzdem (oder gerade deswegen) gern gesehene Interviewpartner in den Medien sind. Das müsste bei uns doch eigentlich auch möglich sein.

Dienstag, 30. September 2014

Prof. Dr. Peter Sommerfeld, FHNW: Stellungnahme zur Kampagne "Sozial-Irrsinn" / "Sozialer Albtraum" in der Sonntagspresse

Zusammenfassung zur Stellungnahme zur Kampagne von Blick und Sonntagszeitung zum "Sozial-Irrsinn" 


Blick und Sonntagszeitung führen eine inszenierte und aufgeblasene Kampagne zum angeblichen Sozial-Irrsinn. Es werden dabei die Sozialhilfestatistik, der Systemwechsel bei der Kinder- und Erwachsenschutzbehörden (KESB) sowie deren Folgen für die Gemeinden, die Kosten für Interventionen der Familienhilfe sowie die Existenz von Sozialfirmen und deren Umsatz in einen nicht bestehenden und daher die Öffentlichkeit irreführenden Zusammenhang gestellt, der erstens suggeriert, dass das gesamte System der sozialen Hilfe versagt (daher Sozial-Irrsinn), und zweitens Habgier der sozial Tätigen als Ursache für die steigenden Kosten unterstellt. Das sind schwerwiegende Vorwürfe, die höchste Anforderungen an Wahrheitsgehalt und Begründung stellen.

Mit der beiliegenden ausführlichen Stellungnahme wird die Haltlosigkeit dieser Kampagne aufgezeigt. Die wichtigsten Punkte im Einzelnen sind: Sozialfirmen erbringen im Gegensatz zur Darstellung in der Sonntagpresse einen erheblichen volkswirtschaftlichen Nutzen, sie finanzieren sich zu einem geringen Teil aus der Sozialhilfe und zu einem grossen Teil selbst und es besteht kein Zusammenhang mit der KESB. Der Anstieg der Sozialhilfekosten hängt von diversen Faktoren ab und die Höhe der Ausgaben muss in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. Ausserdem ist die Höhe der Ausgaben keineswegs skandalös. Auf Gemeindeebene betragen die Kosten für die Sozialhilfe z.B. im Kanton Solothurn 300 Franken im Jahr für jede Bewohner/in. Die Massnahmenentscheide der KESB bilden zudem nur einen Teil der Ausgaben der Sozialhilfe. Das Zusammenspiel zwischen Gemeinden und KESB sowie die Verteilung der Lasten muss als ernstzunehmendes Problem sachlich bearbeitet werden, z.B. über Formen des Lastenausgleichs. Die Interventionen der Fachkräfte der Sozialen Arbeit haben einen Preis, der einerseits in Relation zur Lohnstruktur in der Schweiz und andererseits zusammen mit ihrem Gegenwert, der Bearbeitung von real existierenden sozialen Problemen, im Kontext der KESB insbesondere von Kindern, betrachtet werden muss.

Das Ergebnis der Entgegnung ist, dass das System der sozialen Hilfe, das von der Sonntagszeitung zurecht als „eine der grössten Errungenschaften der Schweiz“ bezeichnet wird, keineswegs versagt, dass den Kosten ein erheblicher gesellschaftlicher Nutzen gegenübersteht, und dass dieses ausdifferenzierte System einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden und zur Umsetzung der demokratischen Grundwerte in der Schweiz leistet.

 

Stellungnahme zu den Veröffentlichungen der sonntagspresse zum thema „Sozial-Irrsinn“ respektive dem „sozialen Albtraum“


Sehr geehrte Damen und Herren Journalisten,

wer das Bild des kleinen Mädchens in der Aufmachung des Artikels „Ein Katalog des sozialen Albtraums“ sieht, denkt zunächst einmal, dass es nun darum gehen würde, dass das soziale Elend, das es in der Schweiz gibt, beleuchtet würde. Und dieser Eindruck wird durch die Bildunterschrift noch verstärkt, nämlich dass „das soziale Netz zu den grössten Errungenschaften der Schweiz“ gehöre. Danach allerdings, ebenso wie in den anderen Beiträgen im Sonntags-Blick und in abgeschwächter Form auch im Tagesanzeiger (zu den Sozialfirmen) geht es weder um die sozialen Probleme, noch die Arbeit an diesen sozialen Problemen, sondern nur noch darum, das System zu diffamieren, das die Leistungen erbringt, die das soziale Netz eigentlich ausmachen, das angeblich und in meinen Augen tatsächlich eine der grössten Errungenschaften der Schweiz und vieler anderer demokratisch verfasster Staaten, letztlich einer humanistisch-christlich geprägten Zivilisation darstellt.

Dass es um Diffamierung und insofern eben um eine Kampagne geht und nicht um eine der Sache dienende Information wird schon an der Begriffswahl „Sozial-Irrsinn“ und „sozialer Albtraum“ klar. Dies wird dann aber vor allem mit der Wahl der Mittel deutlich, mit der diese Diffamierung betrieben wird. Das erste Mittel besteht darin, mit grossen Zahlen zu hantieren, die angeblich das „Problem“ darstellen. Das zweite Mittel besteht darin, unterschiedliche Dinge in  einen Zusammenhang zu stellen, der so zwar nicht besteht, der aber suggeriert, was die Ursache des Problems ist, nämlich letztlich dass das System versagt. Das dritte Mittel ist in Kombination mit dem zweiten natürlich nicht nach den wirklichen Zusammenhängen zu fragen.

Dazu im Einzelnen. Zunächst werden Preise für Leistungen der Sozialen Arbeit aufgelistet, die im Bereich der Familienhilfen angesiedelt sind, ohne auf deren Qualität oder Notwendigkeit einzugehen. Einfach der Preis sagt alles, scheinbar. Dann wird der Umfang und der Anstieg der Sozialhilfekosten mit einer Statistik belegt und insbesondere das Wachstum der Ausgaben in den letzten 10 Jahren betont. Sodann werden die Sozialfirmen eingeführt, die in ihrem Eigeninteresse „immer neue Geschäftsfelder erschliessen“, also wegen des Profits oder zu ihrem Eigennutz immer neue Angebote entwickeln (mit der Unterstellung, dass man diese gar nicht braucht). Am Schluss wird dann noch die Kesb, die neu geschaffene Kinder- und Erwachsenenschutz Behörde ins Spiel gebracht, die den Gemeinden Entscheide aufzwingt, die diese dann finanziell zu tragen haben und dadurch ruiniert werden. Die suggerierte Erklärung für den Anstieg der Sozialhilfekosten ist also einfach: Es bereichert sich die „Sozialindustrie“ auf Kosten der Allgemeinheit und die neu geschaffenen Strukturen der Kesb sind nicht in der Lage dem Einhalt zu gebieten. Gut gemacht und in dieser „Stringenz“ überzeugend. Gleichwohl eine Verdrehung der tatsächlichen Zusammenhänge, die dem, was ich unter seriösem Journalismus verstehen würde, Hohn spricht.

Schauen wir uns die Sache also noch einmal an: Die Sozialhilfe und die damit verbundenen Ausgaben, aber auch die erbrachten Leistungen sind von vielen Faktoren abhängig. Einmal ist ein zeitlich verschobener Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konjunktur nachgewiesen. Zum anderen ist der thematisierte Zeitraum der letzten 10 Jahre geprägt durch eine ganze Reihe von Massnahmen, die als Faktoren anzusehen sind, die zum Anstieg der Sozialhilfekosten auf Gemeindeebene beitragen. Zum einen wurden in diversen Kantonen die Zuständigkeiten und insbesondere die Modalitäten der Finanzierung neu geregelt. Zum anderen sind diverse Reformen der IV, verbunden mit einer restriktiveren Praxis bei der Gewährung von Renten durchgeführt worden. Mit der 4. Revision des  Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) wurde für bestimmte Personengruppen die Länge des Bezugs von Taggeldern verkürzt und gleichzeitig die Anspruchsberechtigung auf einen Taggeldbezug verschärft. All das wirkt sich in diesen einfach anmutenden Zahlen auch aus. Es geht hier mehrheitlich um Kostenverlagerungen, nicht um eigentlich neu entstehende Kosten. Gleichzeitig steigen aber die Ausgaben pro Fall. Das ist ein ernstzunehmender Punkt, der seriöse Untersuchungen erfordert. Auf den Punkt gehen Sie aber nicht weiter ein, weil sie ja eine einfache, gleichwohl falsche Erklärung suggerieren.

Sozialfirmen sind im Wesentlichen aus zwei Gründen auf der Bildfläche erschienen: Zum einen sind sie ein Kind der neo-liberalen Epoche und den damit einhergehenden Deregulierungen sowie der Ideologie, dass der freie Markt die besten Problemlösungen hervorbringen würde. Zum anderen verdanken sie ihre Existenz weitgehend der Doktrin „Arbeit statt Fürsorge“, die als Wundermittel für die Finanzierungsprobleme insbesondere der IV, aber auch der Sozialhilfe insbesondere von den sogenannt bürgerlichen Parteien politisch gefordert und durchgesetzt wurde, und den oben genannten IV-Reformen im Wesentlichen zugrunde liegt. Die Arbeitsintegration ist nun nicht ganz so einfach, wenn der Arbeitsmarkt und letztlich die Wirtschaft diese Arbeitsplätze, notabene für teilweise in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkte Menschen, nicht in genügender Zahl bereitstellt. Die Sozialfirmen bieten 43‘000 bedürftigen Menschen eine Tagesstruktur, Arbeit und mindestens einem Teil davon sogar eine sinnvolle Tätigkeit. Es ist keineswegs so, dass die alle Stecker zusammenstecken. Und für einen Teil von ihnen, leider einen eher kleinen Teil, ist dies ein Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt. Dass der Teil klein ist, liegt an den Strukturbedingungen des Arbeitsmarktes, nicht an der Eigenverantwortung dieser Menschen. Ausserdem schaffen diese Firmen 10‘000 reguläre Arbeitsplätze. Die Sozialfirmen produzieren Waren und Dienstleistungen auf dem Markt und finanzieren sich so zu einem mehr oder weniger grossen Teil selbst. Das Geld, das sie aus der IV und zu einem kleinen Teil aus der Sozialhilfe beziehen, ist in der Regel leistungsgebunden. Das heisst, es gibt Leistungsverträge und somit eine staatliche Kontrolle, die heutzutage praktisch immer eng gefasst sind. Den Kosten steht also ein erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen gegenüber. Die Alternative wäre, dass die Integrationsdoktrin definitiv als gescheitert angesehen werden müsste mit wesentlich höheren Kostenfolgen. Und in der Arbeitslosenstatistik würde sich diese 53‘000 auch nicht wirklich gut machen. Früher oder später würden sie ja dann allerdings wieder ausgesteuert und  an die Sozialhilfe ausgelagert. Ich finde es darüber hinaus absolut stossend, dass das in diesem Land legitime und hoch bewertete Interesse, unternehmerisch tätig zu sein, in dem Moment als moralisch verwerflich dargestellt wird, wo es um soziale Unternehmungen geht. Sozialfirmen brauchen ein real existierendes Problem, auf das hin sie unternehmerisch eine Problemlösung entwickeln, und dabei betriebswirtschaftliche mit fachlichen Anliegen kombinieren, ganz im Sinne der neo-liberalen Reformen. Wenn es das Problem nicht gäbe, gäbe es diese Sozialfirmen nicht. Die Profite, die sich bei einem Umsatz von 630 Millionen und 53‘000 Beschäftigten erzielen lassen, würden übrigens selbst bei niedrigen Lohnkosten keinen Investor wirklich beglücken. Wie bei anderen Firmen auch, tut man gut daran, das Geschäftsgebaren von Zeit zu Zeit zu überprüfen. Dazu dient unter anderem die Forschung, wo wir die Praxis der Sozialen Arbeit und dazu gehören die Sozialfirmen als spezieller Teil, kritisch unter die Lupe nehmen. Dazu gehört aber auch die staatliche Aufsicht, die in der Schweiz vermutlich stattfindet.

Die Interventionen der Familienhilfe sind keine Sozialfirmen im eigentlichen Sinne dieses Begriffs. Es sind professionelle Dienstleistungen. Es handelt sich dabei um eine anspruchsvolle Tätigkeit, die von in der Regel hoch qualifizierten Fachleuten erbracht wird. Dass diese Leistungen nicht vom Staat selbst erbracht werden, sondern von freien Trägern und heute zunehmend von selbständig Erwerbenden, ist absolut keine neue Entwicklung. Das Subsidiaritätsprinzip, das über viele Jahrzehnte als das Mittel schlechthin gefeiert wurde, die staatliche Interventionsmacht einzudämmen und bessere und effizientere Problemlösungen zu ermöglichen, als wenn sie von staatlicher Seite direkt erbracht werden, soll nun also über Bord geworfen werden? Das kann nun nicht wirklich Ihr Ernst sein. Die Kosten, die solche Interventionen nach sich ziehen sind erheblich, das ist wahr. Dies hängt aber primär mit der Lohnstruktur der Schweiz zusammen, nicht mit der Profitgier von sozial Tätigen. 180 Franken für einen freiberuflichen Experten sind absolut marktüblich, wie es so schön heisst, und zwar in allen Branchen, nicht nur der Sozialen Arbeit. Noch einmal: Es handelt sich dabei um eine qualifizierte und anspruchsvolle Tätigkeit, die eine relativ lange Ausbildung voraussetzt. Dies führt zur fachlichen Seite: Die diversen Interventionen in die Familie, die heute zur Verfügung stehen, sind unter anderem eine Folge der fachlichen Entwicklung der Sozialen Arbeit auf der Basis der Erkenntnis, dass frühe Schädigungen langfristige Folgen haben. Langfristige Folgen heisst, wenn wir bei den Zahlen bleiben, hohe Kostenfolgen, unter Umständen ein Leben lang. Positiv oder auf der Wertebasis der Sozialen Arbeit formuliert: Es geht in diesen frühen Interventionen darum, Schaden von einer Familie abzuwenden, die ein manifestes Problem hat, und sie zu befähigen, als Familie in einer Art und Weise weiter zu bestehen, die insbesondere den Kindern Bedingungen des Aufwachsens bietet, in der sie zu kompetenten, gesunden und gut integrierten Mitgliedern dieser Gesellschaft heranwachsen. Das ist der Gegenwert der Kosten, die ohne die dafür erbrachte Leistung und ohne die Rahmung durch die Lohnstruktur im Vergleich mit anderen Berufen sinnlos hoch erscheint, letztlich aber unvermeidlich ist, wenn man die professionelle Bearbeitung der sozialen Probleme, also das, was gemeinhin als soziales Netz beschrieben wird, als eine der grössten Errungenschaften der Schweiz weiterhin sich leisten will. Ich komme auf die Kosten später zurück. Es ist auch hier klar, dass Fachlichkeit heutzutage Qualitätsüberprüfungen bedingt. Ob Zertifizierungen das Mittel der Wahl sind, lasse ich mal hier offen. Festhalten möchte ich hingegen, dass es ein Kennzeichen jeglicher Professionalität ist, eine möglichst hohe Qualität zu erzielen, und dass dies das Anliegen ist, das wir selbst, die Hochschulen und die Praxis der Sozialen Arbeit so weit wie möglich vorantreiben.

Und so schliesst sich der Kreis zur Kesb. Diese hat mit Sozialfirmen überhaupt nichts zu tun. Sie hat auch nicht unmittelbar mit der gesetzlichen Sozialhilfe zu tun, sondern hat eine andere rechtliche Basis, hat eine eigenständige Funktion, die früher mit dem Begriff des Vormundschaftswesens bezeichnet wurde. Es geht im Wesentlichen um das Wohl der Menschen, aller Menschen in der Schweiz, insbesondere von Kindern, für welche die Gemeinschaft eine besondere Verantwortung hat, die sie mit dieser staatlichen Behörde wahrnimmt. Die heutige Form ist das Ergebnis eines demokratisch legitimierten Reformprozesses, der unter anderem auf Erkenntnissen über Mängel des vorigen Systems in fachlicher Hinsicht, das heisst im Hinblick auf die Problembearbeitung, durchgeführt wurde. Es liegt in der Kompetenz der Kesb, dass sie zur Erfüllung ihrer Funktion Aufträge an Dienstleister erteilt, schon deshalb weil sie mit ihren personellen Ressourcen nicht annähernd die zum Teil intensiven, zum Teil langwierigen Interventionen in problematische Familienverhältnisse durchführen könnte. Diese Aufträge gehen, davon gehe ich jedenfalls aus, an qualifizierte Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Der Bedarf an solchen Dienstleistungen ist enorm, und leider ein Ausdruck der Realität in den Schweizer Familien. Das ist aber kein Wildwuchs und das sind auch keine geldgierigen Haie, die sich in einem staatlichen Machtvakuum bereichern. Dass es bessere und schlechtere Leistungserbringer gibt, ist eine Frage der Qualität und der Qualitätskontrolle, die sich nicht am Preis einer Dienstleistung ablesen lässt. Wenn schon, dann wäre wie überall eher ein Zusammenhang von einem höheren Preis mit einer höheren Qualität zu erwarten. Fest steht, dass das in keinem Fall ein einfacher Job ist. Ich möchte das an dieser Stelle einfach einmal festhalten: Meine Kolleginnen und Kollegen in der Praxis der Sozialen Arbeit sind hart arbeitende Menschen, die es mit schwierigen Problemen und zum Teil mit schwierigen Menschen zu tun haben. Dass die Kesb im Moment diese Qualitätskontrolle möglicherweise nicht in vollem Umfang wahrnehmen kann, ist möglich, denn mit den schmalen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, müssen viele Aufgaben bewältigt werden, nicht zuletzt die Systemumstellung. Wir wissen, dass diese Systemumstellung nicht reibungslos verläuft, und dass es diverse Kritikpunkte gibt, die zu bearbeiten sind. Alles andere wäre ein Wunder, das sich zum Beispiel in der immer als Vorbild dargestellten freien Wirtschaft auch nicht einstellt, wenn in einer Unternehmung ein tiefgreifender Wandel stattfindet. Es gibt daher ein ganzes Heer von Beratern, die Spezialisten für „Change-Prozesse“ sind, die gleichwohl auch dort niemals reibungslos verlaufen.

Die Entscheidungen der Kesb über Massnahmen, die in einem Fall getroffen werden müssen, haben Kostenfolgen, die zum Teil aus dem Budget der Sozialhilfe zu bezahlen sind, also zu Lasten der Gemeinden gehen. Dass die Gemeinden hier eine Form der Mitsprache einklagen, ist absolut verständlich und legitim. Das ist das eigentliche Problem des Systems, das ja wohl ihr Ausgangspunkt war. Bei genauerem Hinsehen ist es eine Frage der Koordination und im Kern ein technisches Problem, wie sie bei solchen Systemwechseln immer zu Tage treten, die auf unterschiedlichen, sachlichen  Wegen zu bearbeiten sind. Dieses Problem  wäre auf der technischen Ebene mit einfachen Mitteln des Lastenausgleichs zu lösen, jedenfalls kein Grund das ganze System und den Systemwechsel insgesamt in Frage zu stellen. Der Kanton Bern hat hier beispielsweise vernünftige Lösungen anzubieten und umgesetzt, wie man z.B. einer winzig kleinen Mitteilung am Rande im „Bund“ vom 26.9. entnehmen kann.

Also, was bleibt übrig von Ihrem sozialen Albtraum, von Ihrem Sozial-Irrsinn? Ach ja, die Meinung eines Experten, von Pfarrer Ruch, der sich als Spezialist für Nächstenliebe und angeblich biblische Menschenbilder oder aufgrund welcher Qualifikation auch immer zu Sozialstaat, Fremdenfeindlichkeit und der Lösung all unserer Probleme im Blick dazu äussern darf. Dieser Beitrag grenzt ans Groteske und vielleicht haben Sie das ja gemeint mit dem Sozial-Irrsinn und ich habe Sie nur falsch verstanden. Dieser angebliche Christ eröffnet uns, dass das eigentliche Problem der Sozialstaat ist, der die Menschen (Bezüger und Professionelle) einerseits dazu verführt, es sich bequem zu machen, und andererseits Ausländerfeindlichkeit erzeugt, weil Ausländer durch die Sozialhilfe unterstützt werden. Die famose Lösung wäre also, angeblich nach amerikanischem Vorbild, den Einwanderern keine staatliche Unterstützung zukommen zu lassen. Diejenigen, die es schaffen, sind willkommen und die anderen würden wieder gehen. Die Integration würde in den USA sehr viel besser gelingen als in der Schweiz. Wahnsinn! Wie kann man all das Wissen, das uns zur Verfügung steht einfach komplett ignorieren? Selbst ein oberflächlicher Blick in die USA führt diese Argumentation ad absurdum. Das Ausmass der Armut, des Rassismus, der Gewalt, der Kriminalität insgesamt sind nicht nur nicht verschwunden oder geringer als hierzulande, sondern das krasse Gegenteil ist der Fall. Glauben Sie mir, Sie wünschen sich nicht das Ausmass der sozialen Probleme der USA für die Schweiz. Das wäre dann eher ein sozialer Albtraum. Und ich persönlich wünsche mir Pfarrer, die Jesus Christus wenigstens ansatzweise verstehen würden. Nur zur Erinnerung: Seine Eckpfeiler sind bedingungslose Liebe, Barmherzigkeit, Vergebung und Gnade, und zwar immer in der göttlichen Form und dann in der Menschen möglichen. Deshalb beten Christen „wie im Himmel, so auf Erden“. Nächstenliebe ist insofern ein menschlicher Ausdruck des bei Gott seins, eine christliche Grundhaltung, nicht ein freiwilliges soziales Engagement, das im Ermessen jedes einzelnen Individuums liegt. Die Augen vor dem Elend der Mitmenschen abzuwenden und sogar Massnahmen vorzuschlagen, die sie erst so richtig ins Elend stürzen, ist nicht der Weg, den Jesus lehrt. Fragen Sie Franziskus, wenn Sie mir nicht glauben.

Also, lassen Sie uns mal versuchen in all diesem Irrsinn wieder etwas Boden unter die Füsse zu bekommen. Die Soziale Arbeit ist im Rahmen von demokratischen Gesellschaften weder aus persönlichem Gewinnstreben noch aus persönlicher Bequemlichkeit entstanden, sondern aus der Tatsache, dass diese Gesellschaften die Teilhabe des Volkes, also aller, als Leitidee und grundlegende Wertebasis haben. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die Zentralwerte dieser Gesellschaft, die aber zugleich grosse soziale Ungleichheit und somit ungleiche Teilhabe und Benachteiligung strukturell hervorbringt. Der Zusammenhang von Sozialstruktur und individueller Entwicklung ist ein gesichertes Faktum. Dieser Zusammenhang existiert, ob das ein Pfarrer oder Politiker oder Journalist wahrhaben will oder nicht. Die Soziale Arbeit entsteht historisch aus dieser Spannung des demokratischen Universalprinzips der „Teilhabe aller“ und den mit der Sozialstruktur dieser Gesellschaft zusammenhängenden sozialen Problemen, die sich auf der Ebene von Individuen und Gruppen zeigen. Die Entwicklung jedes einzelnen Menschen ist höchst voraussetzungsvoll und kann daher auch scheitern, insbesondere unter den gegebenen sozialstrukturellen Bedingungen. Die soziale Hilfe ist eine grosse Errungenschaft, weil sie tiefstes materielles Elend verhindert, und weil sie den betroffenen Individuen Unterstützung anbietet, Entwicklungen zu vollziehen und Möglichkeiten zu ergreifen, die ihnen ohne diese Unterstützung nicht zugänglich wären. Dies ist eine grosse Errungenschaft, weil auf diese Weise der Wert der Würde jedes einzelnen Menschen als Massstab für Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit handlungsleitend für die Politik und dieses spezialisierte Funktionssystem der Sozialen Arbeit wird und in der gesellschaftlichen Praxis institutionalisiert wird. Dies ist eine grosse Errungenschaft, weil damit ein hinreichendes Mass an sozialer Sicherheit erzielt werden kann, das Menschen für sich selbst und für das Zusammenleben brauchen. Dies ist eine grosse Errungenschaft, weil damit ein wesentlicher Beitrag zum sozialen Frieden in einer auf Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft geleistet wird. Dies ist eine grosse Errungenschaft, weil damit der Anspruch, eine demokratische Gesellschaft zu sein, mindestens ansatzweise eingelöst werden kann.

Also, wenn wir uns wirklich einig sind, wie Sie schreiben, dass es sich beim sozialen Netz bzw. bei der Institutionalisierung sozialer Hilfe um eine grosse und wertvolle Errungenschaft handelt, warum diffamieren Sie dann dieses System mit unlauteren Mitteln und ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, wie dieses System funktioniert? Geht es wirklich nur um die Kosten, die wir uns angeblich nicht leisten können? Ich gebe Ihnen eine andere Zahl, nur so zum Nachdenken, weil 2.4 Milliarden sich ja kaum jemand wirklich vorstellen kann, was das heisst. (Diese 2.4 Milliarden sind die Höhe der Sozialhilfekosten von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen. Der Anteil der Gemeinden beträgt übrigens 1.4 Milliarden). Im Kanton Solothurn, der normalerweise in allen Statistiken in der Nähe des Schweizer Durchschnitts liegt, beträgt der Nettoaufwand für die Sozialhilfe auf der Ebene der Gemeinden pro Einwohner/in im Jahr 2011 292 Franken und liegt damit unter dem Wert von 2006 (304 Franken). Heute liegt dieser Wert vermutlich höher, weil tatsächlich die Ausgaben gestiegen sind in den letzten drei Jahren. Es gibt hier aber widersprüchliche Angaben. Und die Gründe dafür müssen wir sorgsam anschauen, das ist keine Frage. Das heisst aber, dass Sie all den Wirbel wegen 300 Franken veranstalten, den die Sozialhilfe jeden Bewohner und jede Bewohnerin auf Gemeindeebene im Jahr kostet. Das ist ungefähr so viel wie jede Bewohnerin und jeder Bewohner im Monat für die Krankenkasse bezahlt. Hier wie da zahlen wir nicht nur Leistungen für uns selbst, sondern wir zahlen solidarisch für alle, damit alle, das meint das Wort Volk, einen möglichst grossen Schutz und diejenigen, die einen Bedarf haben, eine möglichst gute und das heisst in meinen Augen professionelle Hilfe geniessen. Dies ist in der Tat eine wunderbare Umsetzung des demokratischen Grundwertes der Brüderlichkeit als säkulare Umsetzung des christlichen Gedankens der Nächstenliebe, da Sie ja den Pfarrer ins Spiel gebracht haben. Der Schluss daraus wäre, dass es sich die reichen Schweizer und Schweizerinnen nicht leisten können für eine ihrer grössten Errungenschaften 300 Franken im Jahr aufzubringen. Das muss mir dann jemand genauer erklären. Um der Wahrheit die Ehre zu erweisen, die mir im Gegensatz zu Ihnen am Herzen liegt, will ich nicht verschweigen, dass die Aufwendungen für die soziale Wohlfahrt pro Einwohner/in auf Gemeindeebene (im Kanton Solothurn) im Jahr 2010 990 Franken betrugen. Und auch die sind möglicherweise mittlerweile ein wenig gestiegen. Das ist immer noch weit entfernt davon ein Sozial-Irrsinn zu sein, geschweige denn, dass dies nicht finanzierbar wäre. Wenn man eine der grössten Errungenschaften der Schweiz als Gegenwert bekommt. Ein sehr grosser Anteil der Sozialhilfe geht übrigens in private Taschen von Vermietern und Krankenkassen. Und ein weiterer Teil der Sozialhilfe, nämlich derjenige der für die sogenannten „Working Poor“ ausgegeben wird, kommt dadurch zustande, dass diese Menschen für Ihre Arbeit einen Lohn bekommen, mit dem Sie Ihre Familie in diesem Land nicht ernähren können. Wenn Sie Material für eine Skandalisierung brauchen, dann wäre das ein Tipp von mir.

Auf der anderen Seite, und damit komme ich zum Schluss, stehen die Betroffenen, diejenigen die auf Hilfe angewiesen sind. Wissen Sie, was es heissen würde, wenn Sie den Grundbedarf in der Schweiz auf 600 Franken kürzen würden, wie es von der SVP in diese aberwitzige Debatte eingebracht wird? Wissen Sie, was Sie mit diesem medialen Entrüstungssturm bei diesen Menschen anrichten? Sie lösen existenzielle Ängste aus, sie lösen krankmachende Spannungen aus und sie befördern damit Dynamiken, die dem sozialen Frieden schaden und das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen unterhöhlen. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Und das hat hohe Kosten zur Folge, nicht nur monetäre. Gehört soziale Verantwortung eigentlich zum Berufsethos von Journalisten?

Wabern, 26. September 2014

Sonntag, 21. September 2014

Beat Kappeler: Was ist denn nun "sozial"?, These Nr. 22

Aus aktuellem Anlass hier ein aufschlussreicher Auszug aus Beat Kappelers Text "Was ist denn nun "sozial"? - 23 Grund-Sätze". Der Text ist übrigens schon seit vielen Jahren so online und wurde mittlerweile um drei Thesen gekürzt:


"Es gibt bewährte Techniken des Umbaus alternder, überforderter Sozialstaaten. Sie wurden in den angelsächsischen Ländern seit 1979 (GB), 1981 (USA) und 1985 (Neuseeland) erprobt.

"Obfuscation" - die Massnahmen sind oft sehr technisch, graduell, aber auf lange Sicht sehr wirksam.

Empfägergruppen können verschieden angegangen, behandelt und zu anderen Zeiten verändert werden - damit teilt man die Widerstände sozialer Demagogie, die heute gegenüber den über 50% der Haushalte mit Staatszuschüssen mobilisert werden kann, indem man diese anlässlich einer Einzelmassnahme schreckt, "das ist der erste Schritt für alle".

Oder im Gegenteil: runde Tische können Opfer aller Gruppen symmetrisch akzeptabel machen.

Ranghöhere Verfassungs- oder Gesetzesnormen können Ausgabenprogramme verhindern (Schuldenbremsen, Einsparungen am gleichen Ort, qualifizierte Mehrheiten im Parlament für Ausgabenbeschlüsse)

Nur künftige Leistungen, nicht laufende, beschneiden. Diese Interessenträger sind selten organisiert.

Den Funktionären der Betroffenen erlauben, das Gesicht zu wahren. Dann werden sie "pfadunabhängig" von ihren früheren Versprechungen und Demagogien.

Die Durchführung harter Massnahmen auf untere Ebenen schieben.

Die Massnahmen den Verursachern übertragen (die Arbeitslosen- und Invalidenversicherung beispielsweise den Arbeitgebern und Arbeitnehmern).

Multiplikativ wirkende Drehpunkte in den Ausschüttungsprogrammen ändern (z.B. Definitionen von Armutsschwellen, die für viele Programme als Berechtigung wirken).

Gewinnerkoalitionen bilden, Verliererkoalitionen bilden sich von selbst."


- Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Hier noch einige Hintergrundinfos zu Herrn Kappeler:

«Die revidierte Invalidenversicherung wird zu einer Quelle der Lebensfreude für die Betroffenen» (ivinfo)

Mehr Lebensfreude dank Integration (Autor: Beat Kappeler)

Die Skizze einer vernünftigen Einschränkung des Stimmrechts (von diesem "sympathischen" Institut erhielt Kappeler 2011 eine Auszeichnung)

Samstag, 20. September 2014

Sozialkonferenz Kanton Zürich: Sozialkosten – bitte differenzieren

Der Fall der Gemeinde Hagenbuch macht Schlagzeilen und flugs wird wieder tüchtig auf die Sozialhilfe eingedroschen. Es gilt zu differenzieren. Die Sozialkosten einer Gemeinde im Kanton Zürich umfassen:

  • Finanzierung von Massnahmen, welche aus dem Kinder- und Erwachsenenschutz resultieren
  • Finanzierung Schulheime
  • Finanzierung freiwillige Massnahmen zu Gunsten der Kinder und Jugendlichen
  • Ergänzungsleistungen zu AHV- und IV-Renten
  • Kleinkinderbetreuungsbeiträge (KKBB)
  • Alimentenbevorschussung
  • Sozialhilfe
  • Sozialhilfe für Menschen mit dem Status „Vorläufig aufgenommene Asylsuchende“ und anerkannte Flüchtlinge
  • Beiträge an soziale Institutionen und Organisationen (z.B. Zweckverbände)

Im Fall der Gemeinde Hagenbuch handelt es sich um die Finanzierung von Heimplatzierungen und weiteren Kindesschutzmassnahmen, welche durch die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde  (KESB) angeordnet wurden. Die Gemeinde muss aktuell für die Kosten dieser Massnahmen aufkommen. Schon heute ist klar, dass es im bestehenden System immer wieder zu solchen Situationen kommen wird. Entlastet werden die Gemeinden erst, wenn neue Gesetze geschaffen werden, die eine verbesserte Kostenverteilung innerhalb des Kantons vorsehen. Das aktuell in Vernehmlassung stehende Kinder- und Jugendheimgesetz sieht eine solche Lösung vor, muss aber noch von Regierungs- und Kantonsrat verabschiedet werden.

Das Existenzminimum der Sozialhilfe ist das tiefste

Fälschlicherweise wird immer noch kolportiert, dass das Existenzminium für den Lebensbedarf exkl. Miete und Krankenkassenprämie bei der Sozialhilfe höher sei als das betreibungsrechtliche Existenzminimum. Das ist nicht der Fall. Der heutige Grundbedarf liegt bei einem Ein-Personen-Haushalt bei 986 Franken, das betreibungsrechtliche Existenzminimum bei 1200 Franken.
‚Arbeit muss sich lohnen‘ ist ein wichtiger Grundsatz des aktuellen Sozialhilfevollzuges. Deshalb erhalten Personen, die arbeiten, zusätzlich zum Grundbedarf eine Zulage als Anreiz. Die Zulagen betragen je nach Anstellungspensum im Kanton Zürich zwischen Fr. 300 und Fr. 600/Mt. Das Maximum wird in der Praxis nur in sehr wenigen Fällen ausbezahlt.


Grundbedarf Sozialhilfe
Betreibungsrechtliches Existenzminimum
Existenzminimum gemäss EL zur AHV/IV
Einzelperson
986.- CHF / Monat
1200.- CHF / Monat
1601.- CHF / Monat
Eineltern-Familie mit
1 Kind
1509.- CHF / Monat *
1750.- CHF / Monat
2437.- CHF / Monat
2 Erwachse-ne mit 2 Kindern
2110.- CHF / Monat*
2500.- CHF / Monat
4074.- CHF / Monat

Eine Arbeitsgruppe der SVP verlangt in ihrem Positionspapier bei der Sozialhilfe eine drastische Senkung des Grundbedarfs auf CHF 600.00. Da stellt sich zunächst die Frage: Wie kommt es, dass wir eine prozentual leicht steigende Zahl von Sozialhilfeberechtigten haben? Es sind zu einem hohen Prozentsatz Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind, die bei der Arbeitslosenkasse ausgesteuert wurden oder auf eine IV-Rente oft über mehrere Jahre warten müssen und deren Vermögen bis auf CHF 4000 für eine Einzelperson aufgebraucht ist. Für diese Personen sieht unsere Gesellschaft nur noch die Sicherung der Existenz über die Sozialhilfe vor. Zunehmend sind Menschen über lange Zeit ohne Aussicht auf Veränderung – obwohl sie dies meist mit aller Kraft versuchen - auf diese Unterstützung angewiesen. Ein Mensch, der wirtschaftlicher Unterstützung bedarf, kann in einem aufgeklärten, liberalen Staatswesen nicht der Abhängigkeit patronaler Solidarität überantwortet werden, wie es die SVP vorschlägt, welche den Gemeinden völlig freie Hand bei der Bemessung der Sozialhilfegelder geben will. Das funktioniert insbesondere dann nicht, wenn alles daran gesetzt werden soll, ihm wieder auf die Beine zu helfen.

Die SKOS-Richtlinien wurden immer wieder der Situation angepasst. Die Sozialkonferenz des Kantons Zürich hat verlangt, dass das 2005 eingeführte Anreizsystem auf dessen Wirksamkeit zu überprüfen sei. Dazu hat die SKOS eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Die SKOS hat zudem von sich aus die Überprüfung des Grundbedarfs und des  Vergleichs mit den untersten Einkommen in Auftrag gegeben. Die zwei Studien sollten Ende Jahr vorliegen und eine faktenbasierte Diskussion erlauben.

Mehr Politik in die Sozialkonferenz und die SKOS

Immer wieder wird kolportiert, die Politik sei in den Gremien der  Sozialkonferenz und der SKOS untervertreten. Im Vorstand der SKOS sind alle Kantone mit ihren Amtschefs vertreten, die Städte und Gemeinden mit 13 Fachpersonen. Es sind allerdings schon heute die kantonalen Sozialdirektoren, welche den Vorschlägen der SKOS zustimmen müssen, bevor sie als Empfehlungen veröffentlicht werden. Jeder Kanton ist danach frei, diese Richtlinien als verbindlich zu erklären.

Im Vorstand der  Sozialkonferenz des Kantons Zürich sitzen 13 politische Vertretungen, gemeldet von den Sozialkonferenzen der Bezirke, in welcher alle Sozialbehörden der Gemeinden vertreten sind. Demgegenüber haben die Bezirke insgesamt  8 Fachleute in den Vorstand delegiert. Die Politiker/innen sind also im Vorstand mit zwei Dritteln vertreten.

Wo ansetzen?

Die Diskussion über die gesellschaftliche Funktion der Sozialhilfe ist wichtig. Noch wichtiger wäre die  Debatte über die bildungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, welche eine bestimmte Anzahl der Bevölkerung über kurz oder lang aus dem Arbeitsmarkt und damit aus der wirtschaftliche Selbständigkeit ausschliesst - mit oft stark reduzierten Chancen, je wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden zu können. Sozialhilfe fängt nur auf, was der Arbeitsmarkt und die vorgelagerten Versicherungssysteme nicht mehr tragen. Die Sozialhilfe sichert mit zunehmender Bedeutung als letztes soziales Netz die Existenz vieler Menschen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden.

Gabriela Winkler, Co-Präsidentin Sozialkonferenz 

Montag, 8. September 2014

Das Bundesamt für Sozialversicherung gegen den Verein PSYCHEX

Vorwort

Man kann ja über die sehr drastische Haltung der Psychex gegenüber der Psychiatrie denken, was man will. Aber Zwangseingewiesene haben wie alle anderen auch einen Anspruch auf einen Rechtsbeistand, der ihre Interessen bedingungslos verteidigt, was die Psychex zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Behindertenwesens macht.

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Das Bundesamt für Sozialversicherung gegen den Verein PSYCHEX

Sehr geehrte Damen und Herren

Die Lage des Vereins PSYCHEX hat sich dramatisch zugespitzt, indem uns das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die IV-Beiträge, auf welche wir als Organisation der privaten Invalidenhilfe gestützt auf Art. 74 IVG einen gesetzlichen Anspruch besitzen, kurzerhand gestrichen hat.

Ausgangspunkt des Konflikts war die Aufforderung des BSV, ihm im Rahmen anstehender Verhandlungen über die Fortsetzung der Leistungen die Namen sämtlicher Klienten zwecks Überprüfung ihrer Berechtigung auf eine IV-Rente bekannt zu geben. Da wir strikte ans Berufsgeheimnis gebunden sind, kommt dies einer Anstiftung zur Verletzung des Anwaltsgeheimnisses gleich. Ausserdem hat eine stichprobenweise Umfrage bei anderen einschlägigen Organisationen ergeben, dass einzig wir zur Preisgabe der Namen auserkoren worden sind - ein flagranter Verstoss gegen das Willkürverbot und das Gleichbehandlungsgebot. Schliesslich weiss das BSV haargenau, dass Menschen, welche in psychiatrische Anstalten versenkt werden, mehrheitlich IV-berentet sind und die Nichtberenteten, weil ja jedem psychiatrisch angeordneten Freiheitsentzug obligatorisch eine "Geisteskrankheit" im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK zu Grunde liegen muss, in die ebenfalls subventionsberechtigte Gruppe der sogenannt Früherfasst fallen. Mit einem anonymisierten, detaillierten Auszug aus unserer Datenbank haben wir den Nachweis erbracht, dass wir weit überwiegend von AnstaltsinsassInnen zu Hilfe gerufen werden.

Bei der Aufforderung des BSV handelt es sich folglich um eine reine Schikane!

Das cui bono ist zu offensichtlich. Nach nun bereits 27-jähriger engagierter Tätigkeit an vorderster Front der Zwangspsychiatrie verfügen wir zweifellos über die umfassendsten Informationen, was sich da so allerhand hinter den für den Souverän - das Volk - unzugänglichen Hochsicherheitsschleusen der psychiatrischen Bollwerke abspielt.

Unverhohlen wird das von uns auch so kommuniziert. Die plump als "Fürsorge" vermarktete Zwangspsychiatrie entpuppt sich als reines Herrschaftsinstrument: Indem an Einzelnen via Versenkung, Zwangsbehandlung mit heimtückischen Nervengiften und Kappung sämtlicher Menschrechte scharfe Exempel statuiert werden, wird der "Souverän" in Schach gehalten. Dass unsere schwere Kritik den Statthaltern der Macht sauer aufstösst, ist nachvollziehbar. Nur - leider ach! - verheddern sie sich mit ihrem nunmehrigen skandalösen Entscheid in einen unlösbaren Widerspruch zu ihrem dauernd vom blauen Himmel heruntergeschwatzten Sprüchlein von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.

Das werden wir ihnen in den nun anstehenden Beschwerdeverfahren gebührend unter die Nase reiben. Auch eine Anzeige wegen Amtsmissbrauch drängt sich auf. Art. 312 StGB bestimmt was folgt:

"Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um ... einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft."

Unser Kerngeschäft besteht darin, dass wir für unsere objektiv der Freiheit und übrigen Menschenrechte beraubten und damit in jeder Hinsicht handicapierten KlientInnnen die gerichtlichen Haftprüfungsverfahren gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK unter Benennung einer Anwältin in Gang setzen. Indem das BSV uns die Mittel kappt und damit ausser Gefecht setzt, vermögen viele mangels unseres Beistandes dieses Menschenrecht nicht mehr wahrzunehmen und müssen sie, selbst wenn es ihnen gelingt, mutterseelenallein gegen die Phalanx von Zwangspsychiatrie und Justiz antreten. Aus Erfahrungswerten wissen wir ,dass professionell Verteidigte eine Entlassungschance von über 50% besitzen, Unverteidigte hingegen eine solche von unter 10%. Gemäss Auswertung der letztjährigen einschlägigen Statistik des Bundesgerichts beträgt dort die Chance auf Entlassung weniger als 4%.

Der Nachteil im Sinne der Strafbestimmung für unsere gebeutelte Klientel könnte offenkundiger nicht sein.

Es liegt auf der Hand, dass wir einstweilen gegen diesen Amtsmissbrauch am kürzeren Hebel sitzen. Die Verfahren können sich beliebig in die Länge ziehen. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam.

Damit unser von sechs Vereinsmitgliedern unterhaltener Pikettdienst nicht zusammenkracht, sind wir daher dringend auf Ihre grosszügigen Spenden angewiesen. Sie sind steuerabzugsfähig. Unsere Postcheckkonti entnehmen Sie bitte dem Briefkopf. Die Daten für die Banküberweisung: PostFinance AG, Mingerstrasse 20, CH-3030 Bern, IBAN: CH30 0900 0000 8003 9103 2 - BIC: POFICHBEXXX.

Wir bitten Sie, durch Streuung dieser Information insbesondere auch bei potentiellen Spendern mitzuhelfen, dass Spenden fliessen und damit die weitere Existenz des Vereins gesichert bleibt. Vielen Dank zum Voraus.

Für die an den Details interessierten haben wir den gesamten Schriftenwechsel mit dem BSV samt dort genannter beilagen auf unserer Homepage unter den News veröffentlicht. Wir werden die laufende Auseinandersetzung ständig aktualisieren.

Mit freundlichen Grüssen

RA Edmund Schönenberger

Quelle der Nachricht: PSYCHEX

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