Dienstag, 28. Oktober 2014

Miss & Mister Handicap Wahlen: Das Potential junger Menschen darf nicht verheizt werden.

Letztes Jahr fand keine Miss & Mister Handicap-Wahl statt. Das war für mich erholsam, denn diese Wahlen lösen bei mir immer einen inneren Konflikt aus. Der Aktivist in mir ärgert sich natürlich über den boulevardesken, gänzlich unpolitischen Charakter dieser Veranstaltung und der damit verbundenen Berichterstattung. Ich kann mir Sendungen wie Glanz & Gloria nicht anschauen, weil ich ihren meist oberflächlichen, belanglosen Inhalt nicht ertrage. Die Miss & Mister Handicap-Wahlen zwingen mich dann aber aus beruflichen Gründen, diese Abneigung bei Seite zu legen und sie mir eben doch anzuschauen. Das führt dann jeweils zum einen oder anderen boshaft-sarkastischen Kommentar von mir, welcher natürlich sofort erboste Reaktionen von Leuten auslöst, die diese Veranstaltung total toll finden.

Wenn das dann passiert, krebse ich manchmal zurück und nehme mich an der eigenen Nase. Schliesslich kritisiere ich ja selber die Behindertenbewegung dafür, dass wir uns in elitärer Runde und unter Ausschluss der Öffentlichkeit über Inklusion unterhalten, anstatt die breite Bevölkerung (oder wenigstens unsere eigene Basis) einzubeziehen. Medien wie die Glückspost, Schweizer Illustrierte oder Glanz & Gloria sind nun mal der kleinste gemeinsame Nenner und somit doch Ideale Plattformen, um die Gesellschaft zu erreichen und unterschwellig zu verändern. Da kann ich doch nur froh sein, dass es da eine Organisation im Behindertenkuchen gibt, die es mit zwei sympathischen Gesichtern geschafft hat, diese Medienkanäle zu nutzen.

Wer wird von wem wozu genutzt?


Als ich mir dann aber brav das Glanz & Gloria-Interview mit den beiden Siegern vom letzten Sonntag angeschaut habe, begann sich mein innerer Konflikt langsam aufzulösen. Während dem die frischgebackene Miss Andrea Berger einigermassen souverän blieb, rannte Dani Fohrler bei Mister Handicap Felice Mastrovita mit seinen klischeebehafteten, indiskreten Fragen offene Türen ein und stocherte ausführlich in dessen noch nicht verheilten seelischen Wunden herum, obwohl dieser stellenweise den Tränen nahe zu seien schien.

Das hat Dani Fohrler natürlich nicht aus Boshaftigkeit getan, sondern weil er so jene Antworten erhalten hat, die die Zuschauer einer solchen Sendung hören wollen: Jene, die ihr Bild vom "armen Behinderten", der sein Schicksal "tapfer meistert" zementieren und sie eben gerade nicht dazu zwingen, ihr eigenes Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung - sei es nun im Alltag oder auch an Abstimmungssonntagen - zu hinterfragen.

Ich nahm diese Erkenntnis zum Anlass, mir die einzelnen Kandidatenprofile etwas genauer anzuschauen. Ich war positiv überrascht: Die meisten Kandidierenden hatten erstaunlich konkrete politische Anliegen auf Lager. Von "Gleichstellung", "Inklusion", "Barrierefreiheit", oder "beruflicher Integration" war da die Rede. Die beiden Gewählten druckten sich da weitaus unkonkreter aus: Andrea Berger wollte die "Lücke" zwischen Menschen mit und ohne Behinderung schliessen, Felice Mastrovita warb mit dem "Abbau von Berührungsängsten" für sich. - Wichtige, aber allgemein und unpolitisch formulierte und damit harmlos wirkende Punkte. Das soll jetzt nicht heissen, dass die Beiden auch so harmlos denken. Das kann man anhand einiger Sätze auf einer Webseite unmöglich beurteilen. Aber das "Abschreckungspotential" der beiden Gewählten war wohl von allen Kandidierenden am geringsten.

Das Problem ist: Letzten Endes wählen bei dieser Veranstaltung eben nicht Menschen mit Behinderung die beiden BotschafterInnen, von denen sie sich inhaltlich am meisten angesprochen fühlen. Wie bei jedem anderen Schönheitswettbewerb auch, wählt die breite, grösstenteils nichtbehinderte Öffentlichkeit. Und die wählt natürlich - womit wir wieder beim Anfang wären - den kleinsten gemeinsamen Nenner. Also den "armen Behinderten", der sein "schweres Schicksal" "tapfer meistert", dabei dankbar ist für jedes Almosen und dem es natürlich nie in den Sinn kommen würde, irgendeine Forderung nach rechtlichen Verbindlichkeiten oder irgendeine Kritik an die Gesellschaft zu richten.

Und ganz unabhängig davon, ob die beiden Gewählten diese Rolle spielen wollen oder nicht, ob sie nun konkrete Anliegen haben oder nicht: Man wird auch während dieser Amtszeit wieder alles tun, um sie in diese Rolle hineinzudrängen und von ihnen das zu hören zu bekommen, was man hören will. Etwas, das man natürlich gerade mit jungen, medienunerfahrenen Menschen besonders gut machen kann.

Den Spiess umdrehen


Deswegen auf die Organisatoren dieser Veranstaltung einzuschlagen, wäre aber der vollkommen falsche Ansatz. Viel eher sollten wir von ihnen lernen. Während dem nämlich die Behindertenbewegung chronisch über fehlenden Nachwuchs klagt, melden sich bei der Miss Handicap-Organisation jedes Jahr junge Menschen, die die behindertenpolitischen Probleme zumindest grob benennen können und Interesse daran äussern, auf eine Veränderung hin zu arbeiten. Warum sind wir nicht im Stande, diese motivierten jungen Menschen abzuholen? Wir sollten nicht zulassen, dass ihr Potential und ihre Leistungsbereitschaft durch diesen Schönheitswettbewerb und seine Nachwehen verheizt werden.

Eine Möglichkeit wäre, eine Zusammenarbeit mit der Miss Handicap-Organisation anzustreben. Würden die Kandidierenden beispielsweise Kurse in politischer Selbstvertretung und im Umgang mit Medien erhalten, möglicherweise mit erfahrenen AktivistInnen als Gastreferenten, könnte man diese hübschen jungen Gesichter auch mit etwas politischer Schlagkraft ausstatten. Und dann liesse sich eben tatsächlich über diesen Kanal für die Anliegen von Menschen mit Behinderung werben, anstatt die vor Mitleid triefenden Klischees des vorletzten Jahrhunderts weiter zu bedienen. Das das Grundsätzlich möglich ist, sehen wir an Beispielen aus Deutschland: Da sind junge, sympathische Leute wie Raul Krauthausen oder Laura Gehlhaar zu finden, die ihre Anliegen formulieren und konkrete Probleme aufzeigen können und trotzdem (oder gerade deswegen) gern gesehene Interviewpartner in den Medien sind. Das müsste bei uns doch eigentlich auch möglich sein.