MESSIE Von übermässiger Sammelwut bis zur Verwahrlosung reicht das Spektrum des Vermüllungssyndroms. Dem Chaos in der Wohnung steht ein Chaos im Kopf gegenüber. Wegwerfen fällt schwer, denn es steht für Trennungsängste und Aufgeben.
Gabriele Spiller «Wie innen, so aussen», sagte schon Paracelsus. Und in der Seele eines echten Messies sieht es meist konfus aus . Denn das unbändige Sammeln von Zeitschriften, die man noch lesen wird, oder von Kleidung, die irgendwann mal wieder passt, kann auf unverarbeitete Verletzungen hinweisen. Mit der Aufforderung, die unnützen Sachen endlich wegzuschmeissen, gerät der «Ratgeber» schnell in einen Streit. Der Versuch, selbst Ordnung im Haus zu schaffen, löst Panik und Abwehr aus . Der Psychiater Peter Dettmering dokumentierte bereits in den 1960er Jahr en seine Beobachtungen in Haushalten, in die er von der Fürsorge gerufen wurde , wenn eine Wohnsituation eskalierte. Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, teilweise offensichtlich verwirrt, andere anscheinend psychisch gesund, lebten in völlig zugemüllten Behausungen. Manche besassen ihre eigene Systematik, andere hatten den Überblick längst verloren. Einige litten an Zwangsstörungen, andere verwahrlosten aufgrund einer Alzheimer - Erkrankung. Doch bald stellte er fest: Es gibt einen Zusammenhang zwischen nicht erfolgter Trauer- und Trennungsarbeit und der Fähigkeit, Überflüssiges aussortieren zu können. Denn solange die Objekte sich noch im persönlichen Umfeld befinden, lebt der Betroffene in der Hoffnung, irgendwann aus eigener Kraft zu einer inneren und äusseren Ordnung zu gelangen.
Wohnung ist die Mutter
Neu ist das öffentliche Bekenntnis, ein Messie zu sein. Das englische «mess» steht für Unordnung oder Durcheinander. In Fernsehsendungen und Selbsthilfegruppen geben sich nun Betroffene zu erkennen. Sie suchen Verständnis und Anerkennung ihres Leidens und entlasten sich somit psychisch. Einen Gesinnungswandel hat das jedoch nicht automatisch zur Folge. Denn die Ursachen sind in der Regel im frühesten Kindesalter zu suchen. Spätere traumatische Erlebnisse , wie Todesfälle und Scheidungen, können das bisherige Lebenskonstrukt zum Kippen bringen. Nicht wenige Psychologen kritisier en den verniedlichenden Begriff Messie . Hinter den meisten Fällen stecke eigentlich eine depressive Erkrankung. Dettmering vergleicht die Beziehung eines Menschen zu seiner Wohnung mit der zur (frühen) Mutter, die für die Ausscheidungen des Babys verantwortlich war. Der vermüllte Patient hat die Entsorgungsfunktion nicht in die eigene Regie übernommen, argumentiert der Psychiater – oder sie ist ihm wieder entglitten.
Ständig verspätet
Der Strukturmangel im eigenen Leben kann sich aber auch in chronischer Unpünktlichkeit manifestieren. Zeit-Messies vergessen Termine, bürden sich zu viel Arbeit auf – dabei möchten sie doch möglichst alles perfekt machen. Um ihren Fehler zu kompensieren, bleiben sie dafür länger oder nehmen noch eine weitere Aufgabe an. Wissenschaftler sehen im Messietum auch ein gesellschaftliches Phänomen. Wie bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS gehen sie davon aus, dass die Betroffenen aus der Reizüberflutung nicht die relevanten Informationen filtern können und überfordert sind. Auch hier werden Entwicklungsstörungen und Existenzängste aus der Kindheit als mögliche Ursache angeführt.
Scham und Hilferuf
Im Alltag sind Menschen mit Vermüllungssyndrom durchaus ins Berufsleben integriert und pflegen soziale Kontakte . Nur die Wohnung ist Tabuzone . Wird man überraschenderweise hineingebeten, kann das als Hilferuf verstanden werden, der aber auch überfordern kann. Ein zugemüllter Haushalt ist das Ergebnis einer länger en Entwicklung und komplexer Zusammenhänge. Sie schreien nach professioneller Hilfe . Nur mit dem (schmerzhaften) Ausmisten ist es nicht getan. Sonst haben sich die Räume nach kürzester Zeit wieder angefüllt und kehren den inneren Müll nach aussen.
Hier gibt es Hilfe
Der Verlag Dietmar Klotz hat mehrere Titel zum Thema im Programm: «Das Vermüllungssyndrom» von Dettmering und Pastenaci ist eine ältere, wegweisende wissenschaftliche Abhandlung. Barbara Lath, eine Einsatzleiterin der Caritas, publizierte dort für professionelle Helfer den «Leitfaden für den Umgang mit Chaoswohnungen» . Mit dem «Messie-Handbuch» bietet Eva S. Roth eine selbstkritische, augenzwinkernde Gebrauchsanweisung für Betroffene, die methodisch jedoch an der Oberfläche bleibt. Im Klett-Cotta Verlag ist in der Reihe «Leben Lernen» mit «Messies – Sucht und Zwang» von Rainer Rehberger ein fundiertes Werk über die Psychodynamik und Behandlung bei Messie-Syndrom und Zwangsstörung erschienen. Es empfiehlt sich Beratern und psychologisch Interessierten mit Grundkenntnissen. In Zürich vermittelt das Selbsthilfezentrum der Stiftung Pro Offene Türen der Schweiz Selbsthilfegruppen in der Region. Das Beratungstelefon ist unter der Woche von 10 bis 12.30 Uhr und von 13.30 bis 16 Uhr besetzt (ausser Freitagnachmit- tag): Telefon 043 288 88 88. Weitere Informationen gibt es unter www.selbsthilfecenter.ch.
Erschienen im Glattaler vom Freitag, 23. August 2013
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