Es folgte eine Flut an "Aufschrei"-Tweets, die mehrheitlich von anzüglichen Bemerkungen und unerwünschtem Körperkontakt berichteten. Es ging hier also nicht nur um Gewalt im konventionellen, brachialen Sinne, sondern um respektloses, grenzverletzendes Verhalten im Allgemeinen. Es ging um die Grenzbereiche von Gewalt, um jenes Verhalten, das leicht kleingeredet werden kann, als Schlagzeile nicht viel hergibt und gerade deshalb immer noch ganz selbstverständlich zum Alltag dazugehört. Oder wie Alice Schwarzer in Günther Jauchs Sendung vom 27. Januar es ausdrückte: "Diese Art von sexistischem Umgang mit Frauen, durch Kollegen, Vorgesetzte oder Arbeitspartner, ist ja in Wahrheit eine Machtgeste, die die Frau so zu sagen auf ihren Platz als Frau zurückschiebt und sie nicht als professionelles Gegenüber akzeptiert."
Die ganze Sache erinnerte mich recht schnell an meine eigenen Erfahrungen und mir wurde bewusst, dass auch ich ein paar dutzend #aufschrei-Tweets veröffentlichen könnte, wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund:
Die Ausbildnerin, die versucht hat, meine Lehre abzubrechen,
nachdem ich ihren Annäherungsversuch abgewiesen habe #aufschrei
Der KV-Lehrling, der uns angespuckt hat, als ich meinem motorisch
behinderten Mitlehrling die Treppe runter half #aufschrei
All die Male, als
man mir ganz selbstverständliche Rechte und Freiheiten vorenthalten hat, mit
der Begründung, ich sei schliesslich behindert #aufschrei
All die Male, als man keine Rücksicht auf mein
Marfan-Syndrom nahm, mit der Begründung, ich könne keine Sonderbehandlung
erwarten, nur weil ich behindert bin #aufschrei
Gegen Unbelehrbarkeit ist keine Charta gewachsen
Was ich an #aufschrei aber beinahe erschreckender finde, als die zahlreichen Erfahrungsberichte, sind die ignoranten Reaktionen mancher Unbelehrbarer: Zeilen wie "Du gehörst einfach mal wieder ordentlich durchgefickt.", sollen Frau Wizorek mehrfach zugeschickt worden sein. Das ist ja eine altbekannte Art, auf den Unmut einer Frau zu reagieren. "Die hat wohl gerade ihre Tage." oder "Die ist wohl in den Wechseljahren." sind auch beliebte Varianten.
Es sind gerade solche Reaktionen, die Anne Wizorek und ihren Mitstreiterinnen recht geben. Denn einen ordinären Spruch oder einen Klaps auf den Hintern kann man ja wie gesagt leicht kleinreden, behaupten, man hätte die Signale des Gegenübers halt falsch interpretiert etc. Aber in diesem Fall weiss man ja, dass das Gegenüber keine sexistischen Sprüche wünscht, tut aber diese Kritik mit eben einem solchen Spruch ab. Viel deutlicher kann man einem Menschen kaum sagen, dass man sich um seine Gefühle und Ansichten nicht schert.
Und auch hier sehe ich wieder eine Parallele zu behinderten Menschen: Hier wird die Unzurechnungsfähigkeit in der Regel nicht auf den Hormonhaushalt oder einen sexuellen Mangel bezogen (wobei mir auch schon mal ein Vorgesetzter den "Tipp" gegeben hat, ich solle doch anfangen zu wichsen, um meine "Geilheit" abzubauen). Hier muss vielmehr die Behinderung als Vorwand herhalten, um das Empfinden eines Menschen als irrational und unberechtigt abtun zu können: Man ist dann einfach grundsätzlich "psychisch gestört" oder aus anderen Gründen nicht zurechnungsfähig, selbst wenn die Behinderung nicht den geringsten Einfluss auf das Urteilsvermögen hat.
Manchmal geht es aber auch noch dreister und man wird ganz offen darauf hingewiesen, dass man ja "bedürftig" (kotz) ist und deshalb grundsätzlich dankbar zu sein und keine Ansprüche zu stellen hat. Das ist dann wenigstens ehrlich, gibt man doch damit ganz offen zu, dass man seine Aggressionen halt an dem auslässt, der schwach ist, weil er durch die geschaffene Abhängigkeit schwach gemacht wurde.
Vor diesem Hintergrund wird dann auch klar, warum die "Wir schauen hin-Charta zur Prävention von sexuellem Missbrauch, Ausbeutung und anderen Grenzverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderung", welche der Öffentlichkeit zufälligerweise fünf Tage nach Wizorek's folgenschwerem Tweet präsentiert wurde, völlig am Ziel vorbeischiesst: Sie trägt weder den Ursachen des Problems Rechnung (Machtverhältnis, schlechte Personalentscheide in Folge Bewerbermangel), noch erfasst sie seinen wahren Umfang (Die alltäglichen Grenzverletzungen, ohne die eine Behinderteneinrichtung gar nicht funktionieren kann). Würde sie das tun, könnte sie nur zum Schluss kommen, dass das System Heim an sich überwunden werden muss. Was bleibt, ist eine nette PR-Aktion, die spätestens beim Auffliegen des nächsten Skandals obsolet sein wird.
Wer sich näher für Belästigungen und Machtspielchen in Behinderteneinrichtungen interessiert, dem empfehle ich jetzt mal ganz uneigennützig das Buch, dass ich zu diesem Thema geschrieben habe:
hochbegabt - behindert - kaputt integriert: über das wahre Gesicht geschützter Institutionen
Die Geschichte passte leider auf keinen Blog und schon gar nicht in einen Tweet.
Siehe auch
Herrenwitz mit Folgen - hat Deutschland ein Sexismus-Problem? (Günther Jauch vom 27. Januar 2013)
Alles in allem eine schwache Sendung, aber Alice Schwarzer macht ein paar wichtige Punkte.
#aufschrei auf Gesellschaft, Behinderung und die Invalidenversicherung
Berner Missbrauchsfall hat laut Verbänden «spürbar sensibilisiert»
Website von "Wir schauen hin"
Heimgewalt Schweiz (Artikelsammlung zum Thema institutionelle Gewalt seit 2000)
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