Montag, 2. September 2013

«Diese Trends sind für die Sozialhilfe alarmierend»

Sozialämter beobachten mit Sorge eine Verlagerung der Kosten von der IV zur Sozialhilfe.

Mit Felix Wolffers (Leiter des Sozialamtes der Stadt Bern) sprach Markus Brotschi, Bern

Die Invalidenversicherung (IV) verfolgt seit 2008 den Grundsatz «Eingliederung vor Rente». Mit der 5. IV-Revision erhielt sie neue Instrumente zur beruflichen Integration. Gleichzeitig wurde die Rentenpraxis verschärft, um die IV aus den roten Zahlen zu bringen. Allerdings mehren sich Berichte, wonach sich für IV-Rentner trotzdem kaum Stellen finden lassen (TA vom 17.8.). Gleichzeitig bestreitet die IV, dass die strengere Rentenpraxis gesundheitlich angeschlagene Menschen vermehrt in die Sozialhilfe führt. Genau dies beobachten aber Sozialämter: So verweist der Leiter des Sozialamts Bern darauf, dass immer mehr Behinderte in der Sozialhilfe hängen bleiben. Anzeichen für diese Entwicklung haben auch die Sozialdienste von Luzern, Basel-Stadt oder die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos).

Die IV hat von 2003 bis 2012 die Zahl der Neurenten fast halbiert. Ermöglicht hätten dies die neuen Eingliederungsmassnahmen. Stimmt das aus Sicht Ihres Sozialamtes?

Die Anzahl der Menschen mit einer Behinderung hat sich in dieser Zeit sicher nicht halbiert. Viele leiden nach wie vor an einer Behinderung. Sie erhalten aber keine Rente mehr und landen irgendwann bei der Sozialhilfe, wenn sie nicht ein grosses Vermögen haben oder von der Familie finanziell unterstützt werden. Weniger Renten bei der IV wären kein Problem, wenn auch Menschen mit einer Behinderung in der Wirtschaft eine Stelle finden würden. Dies ist aber nur in wenigen Fällen so. Leider erstellt die IV keine Statistik, die aufzeigt, wie oft Eingliederungsmassnahmen zum beruflichen Wiedereinstieg führen.

Haben Sie denn Belege dafür, dass die IV Menschen zur Sozialhilfe abschiebt?

Eine Zahl, die diese Tendenz aufzeigt, ist die Höhe der Rückerstattungen von bevorschussten IV-Leistungen. Während ein IV-Verfahren läuft, bezahlt die Sozialhilfe den Lebensunterhalt für jene, die über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen. Spricht die IV dann eine Rente, erstattet sie der Sozialhilfe die Vorschüsse zurück. Diese Rückerstattungen haben sich beim Sozialamt der Stadt Bern von 2007 bis 2010 fast halbiert, von 6,6 auf 3,6 Millionen Franken. Das deutet klar auf eine abnehmende Zahl von IV-Renten hin und darauf, dass mehr Menschen von der Sozialhilfe unterstützt werden müssen. Weil die IV-Verfahren sehr oft jahrelang dauern, werden die Effekte der verschärften Rentenpraxis erst in einigen Jahren noch deutlicher sichtbar. Heute erkennen wir erst Trends, aber diese sind für die Sozialhilfe alarmierend.

Das massiv ausgebaute Instrumentarium der IV zur Wiedereingliederung wird doch nicht völlig erfolglos sein.

Der Ausbau dieser Massnahmen führt vor allem dazu, dass jemand trotz Behinderung seine bisherige Stelle behalten kann – das ist sehr erfreulich. Wer aber die Stelle verloren hat, profitiert kaum. Eine von der IV in Auftrag gegebene Studie kommt zum Schluss, dass die 5. IVRevision bei Stellenlosen keinen positiven Effekt hat. Der Prozentsatz erfolgreich in den Arbeitsmarkt vermittelter Personen hat sich trotz der vielen Integrationsmassnahmen nicht erhöht. Behinderte ohne Stelle finden oft nicht mehr aus der Sozialhilfe heraus: In der Wirtschaft finden sie wegen ihrer Behinderung keine Arbeit, eine IV-Rente erhalten sie aber nicht mehr. Deshalb verzeichnen wir in der Sozialhilfe immer mehr Langzeitfälle – eine Entwicklung, die alle Städte feststellen.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)bestreitet, dass IV-Rentner vermehrt bei der Sozialhilfe landen.

Das Bundesamt beruft sich auf sein eigenes Monitoring, das die Wechselwirkungen zwischen Sozialhilfe, IV und Arbeitslosenversicherung aufzeigen soll. Beim genauen Lesen der Studie zeigt sich, dass diese die These vom Abschieben bisheriger IV-Fälle in die Sozialhilfe bestätigt. Weil die IV-Verfahren meist sehr lange dauern, verarmen viele während dieser Zeit und müssen von der Sozialhilfe unterstützt werden. 2007 hat die Sozialhilfe 4600 Personen unterstützt, die später eine IV-Rente erhalten haben. 2011 erhielten nur noch 4000 Personen aus der Sozialhilfe eine IV-Rente. Das zeigt, dass die IV-Praxis sich deutlich verschärft hat und viele behinderte Personen in der Sozialhilfe verbleiben.

Warum funktioniert aus Ihrer Sicht die Integration schlecht?

Die Verschärfung der IV-Praxis betrifft vor allem Menschen mit Schmerzsymptomen und medizinisch nur schwer fassbaren psychosomatischen Krankheiten. Bei diesen Menschen sind Eingliederungsmassnahmen sehr aufwendig und kaum erfolgreich. Sie sind heute faktisch von der IV ausgeschlossen, und die Sozialhilfe muss ihre soziale Sicherung übernehmen. Es handelt sich dabei sehr oft um Menschen ohne Berufsabschluss, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich verringert. Die Sozialhilfe muss in diesen Fällen oft während Jahrzehnten Unterstützungsleistungen ausrichten.

Die IV will bis 2017 rund 17000 Renten annullieren, um die Sparvorgaben zu erreichen. Davon sind vor allem Schmerzpatienten betroffen. Rechnen Sie damit, dass auch diese bei der Sozialhilfe landen?

Wer nach jahrelanger Absenz vom Arbeitsmarkt die IV-Rente verliert, wird nur schwer wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Wie sich die Aufhebung bestehender Renten mittelfristig auf die Sozialhilfe auswirkt, kann ich nicht voraussagen. Klar ist aber: Die IV verfolgt mit der Rentenüberprüfung ein grosses Sparziel. Wenn sie weniger Renten ausrichtet und es nicht gelingt, für die Betroffenen eine Stelle zu finden, muss am Schluss erneut die Sozialhilfe einspringen. Problematisch an dieser Entwicklung ist, dass so Kosten auf die Kantone und Gemeinden abgewälzt werden, welche die Sozialhilfe finanzieren.

Erschienen im Tages-Anzeiger vom 31. August 2013

4 Kommentare:

  1. Hallo David wie immer gute arbeit.

    also da wird hin und her geschoben was das Zeug hält Sozialhilfeempfänger wird zur abklärung zur IV geschickt bekommt eine Rente und dann plötzlich wird er wieder in die Sozialhilfe abgeschoben oder auch umgekehrt da stimmt doch was nicht

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  2. Neue Revision-Neue Lügen am Volk-Die derzeitige IV ist die korrupteste Versicherung, welche es je in der Schweiz gab! Die Invaliden haben das Milliarden-Loch nicht in Kasse geschlagen. Es war die IV-Hauseigene Bürokratie, welche kläglich versagt seit Jahren bis dato. Statt das Geld Invaliden zukommen zu lassen, hat man seit der letzten Revision mit “kranken” Tricks diese Bürokratie nur noch weiter ausgebaut und die vor allem einheimischen Behinderten schikaniert und bürokratisch “beackert”
    Das IV-Verfahren und die Praxis der Gutachter/innen mit Ihrem UNSELIGEN Motto: aus
    Krank oder Unfall Patienten machen wir wieder gesunde Patienten! Werden Menschliche Tragödien und Schicksale in gröbster fahrlässiger, rechtlicher völlig fragwürdiger vorgehensweise Geschichte geschrieben. Noch niemals in der Schweiz konnte eine andere Versicherung solche Wagnisse eingehen den sie wären subito im Konkurs!
    Bedenken wir, dass wir hier von Kranken oder als Unfallfolge geplagten Patienten sprechen, die Jahrelange Leiden mit Schmerzeen und deren Folgen zu kämpfen haben und jetzt kommt noch der Hammer nämlich eine obligatorische Versicherung mit dem Namen Invalidenversicherung​ und sorgt willkürlich wenn nicht sogar bösartig für weiteres Probleme: Ihnen wird die finanzielle Grundlage für die Lebenshaltungskosten verweigert.
    Niemals kann dies Gutgehen!!! Das Defizit der IV resultiert bestimmt nicht aus den Renten, die verschleudern das Geld für unlautere Gutachter, Scheinjobs, Observationen, sinnlose Eingliederungen und vor allem für zu hohe Beamtensaläre - daraus resultiert dieser Verlust und bestimmt nicht wegen der Handvoll "schwarzer Schafe". Werdet endlich wieder normal!
    Im Rahmen der IV-Revision soll die Invalidenversicherung​ bis im Jahr 2018 17'000 vor allem psychisch angeschlagene Personen wieder ins Arbeitsleben zurückführen. Das entspricht 12'000 Renten.
    Die werden nicht mal 17 IV-Rentner eingliedern. Aber ich wette sie werden ca.16'973 auf die Sozialhilfe rüberschieben. Schliesslich ist jeder der erfolgreich eine Steckdose zusammenbasteln kann 100% arbeitsfähig, obwohl die Betroffenen, ja eine halbe Apotheke Medikamente täglich schlucken müssen, dass er/sie sich überhaupt bewegen können. Aber schliesslich ist das ein Bomben Geschäft für die Pharmamultis. Solange IV-Rentner auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, ist das alles Blabla. Nicht nur, dass Behinderte weniger Geld für dieselbe Arbeit bekommen, oft werden diese gar nicht erst eingestellt, weil die Verantwortlichen Probleme fürchten. .
    Und jetzt noch eine Frage an die Verantwortlichen, wie wollt Ihr diese machen?
    Im Moment sind 188.000 Personen am suchen für eine Stelle und es gibt 14.000 offene Stellen.

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  3. Als meine12 jährige IV- Rente eingestellt wurde, war ich beim Sozialamt. Das erste Wort war zu hören " Wir sind kein Finanzinstitut." Folgende Gespräche waren dann beleidigend, erniedrigend. Zum Schluss habe ich keinen Rappen bekommen. Mit der Begründung " Die Frau arbeitet". Die Frau muss jetzt auch noch verbüsst werden. 2 erwachsene Kinder in der Ausbildung müssen sich selber beim Sozial melden heisst es weiter. Ich selber habe in dieser Zeit 2 x am Rücken operiert worden und nach einem Fehler von den Ärzten muss ich zum dritten Mal operieren lassen. Ich liege den ganzen Tag zu Hause und habe Schmerzen. Seit Rekurs sind 15 Monaten vergangen. Nichts ist passiert. Völlig verschuldet, asoziallisiert und mehr krank geworden. Hat das jetzt der IV Behörden Freude gemacht???

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  4. ...Die IV hat sich viel verschulden lassen..ich habe ärztlichen Missbrauch aufgedeckt.. und trotz beweisen ..schweigt die IV.. mobbt sogar..und sendet mein Schrieben postwended retour.. dies tut sie nun seit Jahren..Ich dachte mal etwas gutes zu tun damit und wollte arbeiten..trotz Zeugnisse bin ich immer mehr verstrick worden in dieser Bürokratie... und Betrug wie Unredlichkeit...und bin schlechter daran als das ich je war bevor ich in die IV kam... nehmen Sie die IV sagte man mir dann werden sie geholfen.. nun.. wünsche Dir trotz allem dass Du den Rank findest, wie ich viele Andere hier auch wünsche.. lassen wir wenigstens untereinander Loyal und Solidarisch sein..
    Von denen mit denen wir es hier zu tun haben können wir es nicht erwarten... Ein Arzt sagte mir einmal ich kann nichts für sie tun denn ich muss mein Verband gegenüber loyal sein.. wenn ich dies nicht tu dann gäbe es noch mehr Schwierigkeiten unter uns..Dieser Arzt war nicht ein irgend jemanden..nur so zusagen..ob die IV Freude hat ?.worin würde dies bestehen..? nein es ist Dummheit..Angst.. Verlust der Prestige.. Ansehen..und Missbrauch... und weil die es wissen sind die auch dagegen abgesichert...Traurig aber war..das Gesetz ist nicht in Balance in diesem Land..

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