Montag, 2. November 2015

Pro Infirmis und der Güselwagen

Der Werbestil der Pro Infirmis ist gerade in der Behindertenszene sehr umstritten. Während dem ich einige Kritikpunkte nachvollziehen kann, bzw. sogar teile, gibt es hin und wieder auch Beschwerden, die ich persönlich der Pro Infirmis gegenüber für unfair halte. Und fair sollte man immer bleiben - nicht nur dem Gegner zu liebe, sondern auch, um seine eigene Glaubwürdigkeit zu wahren.

Das ist allerdings zugegeben nicht immer ganz einfach. Wenn zum Beispiel im Namen der Pro Infirmis ein Mädchen mit Down-Syndrom von einem Güselwagen herunterlächelt, wirkt das auf den ersten Blick schon sehr verstörend.

Pro Infirmis-Werbung: Ein lächelndes Mädchen mit Down-Syndrom auf einem Müllwagen (Bild: ZVG)

Der Gedanke liegt dann nahe, dass der gebotene Respekt gegenüber diesem Mädchen zu Gunsten einer vergleichsweise billigen (wen wundert's?) Werbefläche vernachlässigt wurde.

Was aber, wenn diese Verbindung von Behinderung und Müllentsorgung von den Verantwortlichen voll beabsichtigt ist? Wenn man bedenkt, dass neun von zehn aller mit Down-Syndrom diagnostizierten Embryonen abgetrieben werden, ist es doch eigentlich recht naheliegend, den Link zur Abfallbeseitigung herzustellen. Das ist noch nicht einmal doppeldeutig: Die wenigsten Eltern dürften sich die Mühe machen, einem Kind, das sie nicht haben wollten, einen Namen zu geben und eine teure Beerdigung zu veranstalten. Diese Kinder landen dann also tatsächlich in der Müllverbrennung, wenn auch nicht via Hauskehricht. Möglich, dass die Pro Infirmis diese Tatsache auf eine etwas polemische Weise anprangern möchte.

In diesem sarkastischen Kontext müsste man dann wohl auch die auf dem Plakat angebrachte Aufforderung interpretieren: "Kommen Sie näher" (Subtext: ...und werfen Sie Ihr defektes Kind gleich selber rein).

- Finden Sie das zu weit hergeholt? Wenn ja, bedenken Sie bitte, dass dieses Plakat, wenn es nicht an einem Güselwagen hängen würde, absolut keinen Sinn ergeben würde. Wir hätten dann nur noch ein lachendes Mädchen (Jö!) mit Down-Syndrom (Doppel-Jö!) und der Aufforderung, näher zu kommen (hä?).

Recycling & Inklusion


Wenn wir aber unsere Abfall-Theorie noch etwas weiterspinnen, erschliessen sich uns weitere Bedeutungsebenen dieser vielschichtigen Werbung: Im Recycling geht man davon aus, dass Abfall oft nur entsteht, weil man mit Ressourcen falsch umgeht. Diese können durch die richtige Aufbereitung aus ihrer Nutzlosigkeit befreit und wieder in den Wirtschaftskreislauf überführt werden.

Ganz ähnlich verhält es sich ja mit dem sozialen Modell von Behinderung: Auch hier geht man davon aus, dass nicht die Einschränkung eines Menschen seine Behinderung ausmacht, sondern die Ignoranz, mit der Wirtschaft und Gesellschaft auf diesen Menschen und seine Einschränkung reagieren. Wandelt sich aber diese Einstellung hin zu einem inklusiven Denken, kann die Behinderung überwunden werden. Man könnte sagen: Was Recycling für Wertstoffe bedeutet, bedeutet Inklusion für Menschen.

Bei der beruflichen Eingliederung gibt es sogar noch eine Parallele zum in letzter Zeit in Mode gekommenen "Upcycling", also einer Aufwertung des recycelten Materials: ein wiedereingegliederter IV-Rentner kann seine während der Invalidität gemachten Erfahrungen und die gewonnene Sensibilität nutzen und seinen Arbeitgeber bei der Eingliederung weiterer IV-Rentner unterstützen.

Natürlich kann es auch zu einem Downcycling kommen. Beispielsweise dann, wenn der Eingegliederte nachher Gutachten für die IV erstellt.

Fazit


Auf sarkastische, subtile und doch unmissverständliche Weise prangert die Pro Infirmis die "pränatale Wegwerfmentalität" in unserer Gesellschaft an und bewirbt zugleich das soziale Modell von Behinderung.

Diese Güselwagen-Aktion gehört somit zu den subversivsten Werbekampagnen, die die Pro Infirmis je lanciert hat...

...

...also vorausgesetzt natürlich, die Organisation hat bei der Buchung dieser Werbeflächen die selben Gedankengänge unternommen, wie ich gerade.

Update vom 12. März 2019

Vor etwa einer Woche wurde die Güselwagen-Werbung wieder gesichtet und es gab erneut einige Beschwerden. Im Unterschied zu den Vorjahren gab Pro Infirmis bekannt, sich um die Sache zu kümmern. Heute verkündete die Organisation, dass die Werbung entsorgt worden ist. Es bestätigt meinen Eindruck, dass mit dem Wechsel in Fundraising und Direktion ein positiver Kulturwandel bei Pro Infirmis eingesetzt hat. Das freut mich sehr!
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Siehe auch


«Wir schaffen Behinderung ab» – Liebe Pro Infirmis, wie soll diese Werbung verstanden werden? - Artikel auf "etwasanderekritik"

Ziemlich clever: Pro Infirmis bucht Werbefläche auf Müllwagen. - Konversation auf Twitter

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