Es ist kein Geheimnis, dass viele progressive US-Amerikaner Kanada als ein Utopia des Nordens idealisieren. Jeder hat eine Krankenversicherung, gleichgeschlechtliche Ehen wurden zehn Jahre früher als in den USA eingeführt, und das Land hat einen reizenden, linken Premierminister (inklusive Tätowierung und Literatur-Abschluss). Nachdem US-Präsident Trump die Einreise von Flüchtlingen, Einwanderern und Touristen von sieben überwiegend muslimischen Ländern eingeschränkt hatte, twitterte Premierminister Trudeau: "An all jene, die vor Verfolgung, Terror und Krieg fliehen: Kanada wird euch willkommen heissen, egal woran ihr glaubt. Vielfalt ist unsere Stärke #WelcomeToCanada." Die Liberalen gerieten daraufhin kollektiv ins Schwärmen.
Das Problem ist, dass Kanadas Einwanderungspolitik nicht ganz so traumhaft ist, wie einige US-Amerikaner vielleicht denken. Sie schliesst Menschen mit Behinderung bereits seit Jahrzehnten praktisch aus: Gemäss dem Kanadischen "Immigration and Refugee Protection Act" (Einwanderungs- und Flüchtlingsgesetz) können Ausländer abgewiesen werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie das Gesundheits- oder Sozialwesen erheblich belasten würden. Das bedeutet, dass Familien abgewiesen werden können, wenn sie gehörlose Kinder haben und Ehepartner können abgelehnt werden, weil sie einen Rollstuhl benutzen. Diese Praxis ist sogar schärfer als das schwierige Zuwanderungssystem der USA.
Es ist nicht bekannt, wie viele Migranten mit Behinderung von Kanada abgewiesen werden. Die meisten abgewiesenen haben nicht die finanziellen Mittel, um Rekurs einzulegen und nur wenige Fälle schaffen es in die Medien.
Im Jahr 2000 wurde dem Multimillionär David Hilewitz und seinem Sohn Gavin die Zuwanderung aus Süd Afrika verwehrt, weil Gavin eine leichte Entwicklungsstörung hat. Die Deutsche Angela Chesters, die mit einem Kanadier verheiratet ist, bekam keine unbefristete Aufenthaltsbewilligung, weil sie Multiple Sklerose hat. Die Familie Chapman aus Grossbritannien wurde 2008 an einem kanadischen Flughafen an der Einreise gehindert, weil ihre Tochter einen Gendefekt hat. Die niederländische Familie DeJong durfte nicht einwandern, weil ihre Tochter eine leichte intellektuelle Behinderung hat. Der Costa Ricaner Felipe Montoya sollte an einer Universität in Toronto unterrichten, doch seine Familie durfte nicht übersiedeln weil sein Sohn das Down Syndrom hat. 2015 verweigerten die Behörden Maria Victoria Venancio die medizinische Versorgung und versuchten sie abzuschieben, nachdem sie zur Paraplegikerin geworden war.
Gemäss dem kanadischen Professor für Sozialarbeit und Behinderten-Rechts-Aktivist Roy Hanes dominiert diese Praxis das Einwanderungswesen, obwohl das Gesetz Menschen mit Behinderung gar nicht explizit vom Recht auf Einwanderung ausschliesst. Potentielle Einwanderer müssen medizinische und psychologische Untersuchungen über sich ergehen lassen, um zu beweisen, dass ihre Körper und Geisteszustände nicht zur Bürde für Kanadas sozio-ökonomische Struktur werden. Hanes schrieb in einer Abhandlung über das kanadische Einwanderungsrecht, dass diese Politik es Menschen mit Behinderung "extrem erschwert" die kanadische Staatsbürgerschaft zu erwerben.
Hanes führt aus, dass diese Politik der Ausgrenzung aus der veralteten Vorstellung entstanden ist, dass Menschen mit Behinderung keine produktiven Mitglieder der Wirtschaft seien, weil sie zu viele Ressourcen verbrauchen würden. "Die weit zurückreichenden Bedenken drohender sozialer Abhängigkeit ist bis heute eines der Haupthindernisse für Menschen mit Behinderung. Es scheint, dass Menschen mit Behinderung nach wie vor danach beurteilt werden, was sie nicht tun können und nicht anhand ihrer Fähigkeiten.", heisst es in seiner Abhandlung. "Die Einwanderungsgesetzgebung basiert auf ökonomischem "Utilitarismus" und Menschen mit Behinderung schneiden sehr schlecht ab, wenn man ihre Fähigkeiten nur unter dem Aspekt der ökonomischen Produktivität berücksichtigt."
Einige Wissenschaftler vertreten den Standpunkt, dass diese behindertenfeindliche Einwanderungspolitik gegen die kanadische Verfassung verstossen könnte, ganz zu schweigen von der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Trotz der Möglichkeit einer zukünftigen Reform - derzeit ist ein Bundesgesetz über Barrierefreiheit in Arbeit, welches auch Auswirkungen auf die Einwanderung haben könnte - ist diese diskriminierende Politik gemäss Global Disability Watch "tief verwurzelt" und es gibt "keine Anzeichen für eine Verbesserung." Die Gruppe fügt hinzu, dass Kanadas Einwanderungspraxis zeigt, "wie man ein behinderten-freies Land aufbaut."
Unter dieser Politik verborgen liegt die Annahme, geboren in der widerlichen Ehe zwischen Eugenik und westlichem Kapitalismus, dass ein Mensch an Wert verliert, sobald er kein "produktives" Mitglied der Gesellschaft sein kann. Der Wert wird bestimmt durch den Beitrag an einen Profit, durch Unabhängigkeit und durch die Fähigkeit, seinen Beitrag zu leisten. Natürlich ist die Annahme, dass irgendjemand wirklich unabhängig sein kann, oder dass wir fähig wären, ohne einander zu überleben, ist ein reiner Mythos. Aber es ist ein zentraler Pfeiler der Geschichte des westlichen Kapitalismus - und Kanada umarmt diesen Pfeiler, wenn es um Migrationsfragen geht.
In den Vereinigten Staaten müssen sich angehende Einwanderer ebenfalls medizinisch und psychologisch untersuchen lassen, hauptsächlich um sicherzustellen, dass sie keinen Schaden anrichten oder Verbrechen begehen. Das US-amerikanische System verdient reichlich Kritik, aber Behindertenaktivisten auf beiden Seiten der Grenze sind sich einig, dass die kanadische Einwanderungspolitik in dieser Hinsicht wesentlich restriktiver ist. Ja, Trump denkt sich neue Restriktionen für Einwanderer aus, währendem Kanada seine Offenheit bewirbt. Aber wie viele Asylsuchende, die in der Annahme Schutz zu bekommen von den USA aus nach Kanada ausweichen, werden dort abgewiesen, weil sie eine Behinderung haben? Idealisieren wir kein Land, dass an der ableistischen, in der Eugenik verwurzelten Idee festhält, , dass irgend ein Mensch eine "übermässige Belastung" darstellt.
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