Zusammenfassung zur Stellungnahme zur Kampagne von Blick und Sonntagszeitung zum "Sozial-Irrsinn"
Blick und Sonntagszeitung führen eine inszenierte und
aufgeblasene Kampagne zum angeblichen Sozial-Irrsinn. Es werden dabei die
Sozialhilfestatistik, der Systemwechsel bei der Kinder- und
Erwachsenschutzbehörden (KESB) sowie deren Folgen für die Gemeinden, die Kosten
für Interventionen der Familienhilfe sowie die Existenz von Sozialfirmen und
deren Umsatz in einen nicht bestehenden und daher die Öffentlichkeit
irreführenden Zusammenhang gestellt, der erstens suggeriert, dass das gesamte
System der sozialen Hilfe versagt (daher Sozial-Irrsinn), und zweitens Habgier
der sozial Tätigen als Ursache für die steigenden Kosten unterstellt. Das sind
schwerwiegende Vorwürfe, die höchste Anforderungen an Wahrheitsgehalt und
Begründung stellen.
Mit der beiliegenden ausführlichen Stellungnahme wird die
Haltlosigkeit dieser Kampagne aufgezeigt. Die wichtigsten Punkte im Einzelnen
sind: Sozialfirmen erbringen im Gegensatz zur Darstellung in der Sonntagpresse
einen erheblichen volkswirtschaftlichen Nutzen, sie finanzieren sich zu einem
geringen Teil aus der Sozialhilfe und zu einem grossen Teil selbst und es besteht
kein Zusammenhang mit der KESB. Der Anstieg der Sozialhilfekosten hängt von
diversen Faktoren ab und die Höhe der Ausgaben muss in einen grösseren
Zusammenhang gestellt werden. Ausserdem ist die Höhe der Ausgaben keineswegs
skandalös. Auf Gemeindeebene betragen die Kosten für die Sozialhilfe z.B. im
Kanton Solothurn 300 Franken im Jahr für jede Bewohner/in. Die
Massnahmenentscheide der KESB bilden zudem nur einen Teil der Ausgaben der
Sozialhilfe. Das Zusammenspiel zwischen Gemeinden und KESB sowie die Verteilung
der Lasten muss als ernstzunehmendes Problem sachlich bearbeitet werden, z.B.
über Formen des Lastenausgleichs. Die Interventionen der Fachkräfte der
Sozialen Arbeit haben einen Preis, der einerseits in Relation zur Lohnstruktur
in der Schweiz und andererseits zusammen mit ihrem Gegenwert, der Bearbeitung
von real existierenden sozialen Problemen, im Kontext der KESB insbesondere von
Kindern, betrachtet werden muss.
Das Ergebnis der Entgegnung ist, dass das System der
sozialen Hilfe, das von der Sonntagszeitung zurecht als „eine der grössten
Errungenschaften der Schweiz“ bezeichnet wird, keineswegs versagt, dass den
Kosten ein erheblicher gesellschaftlicher Nutzen gegenübersteht, und dass
dieses ausdifferenzierte System einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden
und zur Umsetzung der demokratischen Grundwerte in der Schweiz leistet.
Stellungnahme zu den Veröffentlichungen der sonntagspresse zum thema
„Sozial-Irrsinn“ respektive dem „sozialen Albtraum“
Sehr geehrte Damen und Herren Journalisten,
wer das Bild des kleinen Mädchens in der Aufmachung des
Artikels „Ein Katalog des sozialen Albtraums“ sieht, denkt zunächst einmal,
dass es nun darum gehen würde, dass das soziale Elend, das es in der Schweiz
gibt, beleuchtet würde. Und dieser Eindruck wird durch die Bildunterschrift
noch verstärkt, nämlich dass „das soziale Netz zu den grössten Errungenschaften
der Schweiz“ gehöre. Danach allerdings, ebenso wie in den anderen Beiträgen im
Sonntags-Blick und in abgeschwächter Form auch im Tagesanzeiger (zu den
Sozialfirmen) geht es weder um die sozialen Probleme, noch die Arbeit an diesen
sozialen Problemen, sondern nur noch darum, das System zu diffamieren, das die
Leistungen erbringt, die das soziale Netz eigentlich ausmachen, das angeblich und
in meinen Augen tatsächlich eine der grössten Errungenschaften der Schweiz und
vieler anderer demokratisch verfasster Staaten, letztlich einer
humanistisch-christlich geprägten Zivilisation darstellt.
Dass es um Diffamierung und insofern eben um eine Kampagne
geht und nicht um eine der Sache dienende Information wird schon an der
Begriffswahl „Sozial-Irrsinn“ und „sozialer Albtraum“ klar. Dies wird dann aber
vor allem mit der Wahl der Mittel deutlich, mit der diese Diffamierung
betrieben wird. Das erste Mittel besteht darin, mit grossen Zahlen zu
hantieren, die angeblich das „Problem“ darstellen. Das zweite Mittel besteht
darin, unterschiedliche Dinge in einen
Zusammenhang zu stellen, der so zwar nicht besteht, der aber suggeriert, was
die Ursache des Problems ist, nämlich letztlich dass das System versagt. Das
dritte Mittel ist in Kombination mit dem zweiten natürlich nicht nach den
wirklichen Zusammenhängen zu fragen.
Dazu im Einzelnen. Zunächst werden Preise für Leistungen der
Sozialen Arbeit aufgelistet, die im Bereich der Familienhilfen angesiedelt
sind, ohne auf deren Qualität oder Notwendigkeit einzugehen. Einfach der Preis
sagt alles, scheinbar. Dann wird der Umfang und der Anstieg der Sozialhilfekosten
mit einer Statistik belegt und insbesondere das Wachstum der Ausgaben in den
letzten 10 Jahren betont. Sodann werden die Sozialfirmen eingeführt, die in
ihrem Eigeninteresse „immer neue Geschäftsfelder erschliessen“, also wegen des
Profits oder zu ihrem Eigennutz immer neue Angebote entwickeln (mit der Unterstellung,
dass man diese gar nicht braucht). Am Schluss wird dann noch die Kesb, die neu
geschaffene Kinder- und Erwachsenenschutz Behörde ins Spiel gebracht, die den
Gemeinden Entscheide aufzwingt, die diese dann finanziell zu tragen haben und
dadurch ruiniert werden. Die suggerierte Erklärung für den Anstieg der
Sozialhilfekosten ist also einfach: Es bereichert sich die „Sozialindustrie“
auf Kosten der Allgemeinheit und die neu geschaffenen Strukturen der Kesb sind
nicht in der Lage dem Einhalt zu gebieten. Gut gemacht und in dieser
„Stringenz“ überzeugend. Gleichwohl eine Verdrehung der tatsächlichen
Zusammenhänge, die dem, was ich unter seriösem Journalismus verstehen würde,
Hohn spricht.
Schauen wir uns die Sache also noch einmal an: Die
Sozialhilfe und die damit verbundenen Ausgaben, aber auch die erbrachten Leistungen
sind von vielen Faktoren abhängig. Einmal ist ein zeitlich verschobener
Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konjunktur nachgewiesen. Zum anderen ist
der thematisierte Zeitraum der letzten 10 Jahre geprägt durch eine ganze Reihe
von Massnahmen, die als Faktoren anzusehen sind, die zum Anstieg der
Sozialhilfekosten auf Gemeindeebene beitragen. Zum einen wurden in diversen
Kantonen die Zuständigkeiten und insbesondere die Modalitäten der Finanzierung
neu geregelt. Zum anderen sind diverse Reformen der IV, verbunden mit einer
restriktiveren Praxis bei der Gewährung von Renten durchgeführt worden. Mit der
4. Revision des
Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) wurde für bestimmte Personengruppen
die Länge des Bezugs von Taggeldern verkürzt und gleichzeitig die Anspruchsberechtigung
auf einen Taggeldbezug verschärft. All das wirkt sich in diesen einfach
anmutenden Zahlen auch aus. Es geht hier mehrheitlich um Kostenverlagerungen,
nicht um eigentlich neu entstehende Kosten. Gleichzeitig steigen aber die
Ausgaben pro Fall. Das ist ein ernstzunehmender Punkt, der seriöse
Untersuchungen erfordert. Auf den Punkt gehen Sie aber nicht weiter ein, weil
sie ja eine einfache, gleichwohl falsche Erklärung suggerieren.
Sozialfirmen sind im Wesentlichen aus zwei Gründen auf der
Bildfläche erschienen: Zum einen sind sie ein Kind der neo-liberalen Epoche und
den damit einhergehenden Deregulierungen sowie der Ideologie, dass der freie
Markt die besten Problemlösungen hervorbringen würde. Zum anderen verdanken sie
ihre Existenz weitgehend der Doktrin „Arbeit statt Fürsorge“, die als
Wundermittel für die Finanzierungsprobleme insbesondere der IV, aber auch der
Sozialhilfe insbesondere von den sogenannt bürgerlichen Parteien politisch
gefordert und durchgesetzt wurde, und den oben genannten IV-Reformen im
Wesentlichen zugrunde liegt. Die Arbeitsintegration ist nun nicht ganz so
einfach, wenn der Arbeitsmarkt und letztlich die Wirtschaft diese
Arbeitsplätze, notabene für teilweise in ihrer Leistungsfähigkeit
eingeschränkte Menschen, nicht in genügender Zahl bereitstellt. Die
Sozialfirmen bieten 43‘000 bedürftigen Menschen eine Tagesstruktur, Arbeit und
mindestens einem Teil davon sogar eine sinnvolle Tätigkeit. Es ist keineswegs
so, dass die alle Stecker zusammenstecken. Und für einen Teil von ihnen, leider
einen eher kleinen Teil, ist dies ein Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt.
Dass der Teil klein ist, liegt an den Strukturbedingungen des Arbeitsmarktes,
nicht an der Eigenverantwortung dieser Menschen. Ausserdem schaffen diese
Firmen 10‘000 reguläre Arbeitsplätze. Die Sozialfirmen produzieren Waren und
Dienstleistungen auf dem Markt und finanzieren sich so zu einem mehr oder
weniger grossen Teil selbst. Das Geld, das sie aus der IV und zu einem kleinen
Teil aus der Sozialhilfe beziehen, ist in der Regel leistungsgebunden. Das
heisst, es gibt Leistungsverträge und somit eine staatliche Kontrolle, die
heutzutage praktisch immer eng gefasst sind. Den Kosten steht also ein
erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen gegenüber. Die Alternative wäre, dass
die Integrationsdoktrin definitiv als gescheitert angesehen werden müsste mit
wesentlich höheren Kostenfolgen. Und in der Arbeitslosenstatistik würde sich
diese 53‘000 auch nicht wirklich gut machen. Früher oder später würden sie ja
dann allerdings wieder ausgesteuert und an die Sozialhilfe ausgelagert. Ich finde es
darüber hinaus absolut stossend, dass das in diesem Land legitime und hoch
bewertete Interesse, unternehmerisch tätig zu sein, in dem Moment als moralisch
verwerflich dargestellt wird, wo es um soziale Unternehmungen geht.
Sozialfirmen brauchen ein real existierendes Problem, auf das hin sie unternehmerisch
eine Problemlösung entwickeln, und dabei betriebswirtschaftliche mit fachlichen
Anliegen kombinieren, ganz im Sinne der neo-liberalen Reformen. Wenn es das
Problem nicht gäbe, gäbe es diese Sozialfirmen nicht. Die Profite, die sich bei
einem Umsatz von 630 Millionen und 53‘000 Beschäftigten erzielen lassen, würden
übrigens selbst bei niedrigen Lohnkosten keinen Investor wirklich beglücken.
Wie bei anderen Firmen auch, tut man gut daran, das Geschäftsgebaren von Zeit
zu Zeit zu überprüfen. Dazu dient unter anderem die Forschung, wo wir die Praxis
der Sozialen Arbeit und dazu gehören die Sozialfirmen als spezieller Teil,
kritisch unter die Lupe nehmen. Dazu gehört aber auch die staatliche Aufsicht,
die in der Schweiz vermutlich stattfindet.
Die Interventionen der Familienhilfe sind keine Sozialfirmen
im eigentlichen Sinne dieses Begriffs. Es sind professionelle Dienstleistungen.
Es handelt sich dabei um eine anspruchsvolle Tätigkeit, die von in der Regel
hoch qualifizierten Fachleuten erbracht wird. Dass diese Leistungen nicht vom
Staat selbst erbracht werden, sondern von freien Trägern und heute zunehmend
von selbständig Erwerbenden, ist absolut keine neue Entwicklung. Das
Subsidiaritätsprinzip, das über viele Jahrzehnte als das Mittel schlechthin
gefeiert wurde, die staatliche Interventionsmacht einzudämmen und bessere und
effizientere Problemlösungen zu ermöglichen, als wenn sie von staatlicher Seite
direkt erbracht werden, soll nun also über Bord geworfen werden? Das kann nun nicht
wirklich Ihr Ernst sein. Die Kosten, die solche Interventionen nach sich ziehen
sind erheblich, das ist wahr. Dies hängt aber primär mit der Lohnstruktur der
Schweiz zusammen, nicht mit der Profitgier von sozial Tätigen. 180 Franken für
einen freiberuflichen Experten sind absolut marktüblich, wie es so schön
heisst, und zwar in allen Branchen, nicht nur der Sozialen Arbeit. Noch einmal:
Es handelt sich dabei um eine qualifizierte und anspruchsvolle Tätigkeit, die
eine relativ lange Ausbildung voraussetzt. Dies führt zur fachlichen Seite: Die
diversen Interventionen in die Familie, die heute zur Verfügung stehen, sind
unter anderem eine Folge der fachlichen Entwicklung der Sozialen Arbeit auf der
Basis der Erkenntnis, dass frühe Schädigungen langfristige Folgen haben. Langfristige
Folgen heisst, wenn wir bei den Zahlen bleiben, hohe Kostenfolgen, unter
Umständen ein Leben lang. Positiv oder auf der Wertebasis der Sozialen Arbeit
formuliert: Es geht in diesen frühen Interventionen darum, Schaden von einer
Familie abzuwenden, die ein manifestes Problem hat, und sie zu befähigen, als
Familie in einer Art und Weise weiter zu bestehen, die insbesondere den Kindern
Bedingungen des Aufwachsens bietet, in der sie zu kompetenten, gesunden und gut
integrierten Mitgliedern dieser Gesellschaft heranwachsen. Das ist der
Gegenwert der Kosten, die ohne die dafür erbrachte Leistung und ohne die
Rahmung durch die Lohnstruktur im Vergleich mit anderen Berufen sinnlos hoch
erscheint, letztlich aber unvermeidlich ist, wenn man die professionelle
Bearbeitung der sozialen Probleme, also das, was gemeinhin als soziales Netz
beschrieben wird, als eine der grössten Errungenschaften der Schweiz weiterhin
sich leisten will. Ich komme auf die Kosten später zurück. Es ist auch hier
klar, dass Fachlichkeit heutzutage Qualitätsüberprüfungen bedingt. Ob
Zertifizierungen das Mittel der Wahl sind, lasse ich mal hier offen. Festhalten
möchte ich hingegen, dass es ein Kennzeichen jeglicher Professionalität ist,
eine möglichst hohe Qualität zu erzielen, und dass dies das Anliegen ist, das
wir selbst, die Hochschulen und die Praxis der Sozialen Arbeit so weit wie
möglich vorantreiben.
Und so schliesst sich der Kreis zur Kesb. Diese hat mit
Sozialfirmen überhaupt nichts zu tun. Sie hat auch nicht unmittelbar mit der
gesetzlichen Sozialhilfe zu tun, sondern hat eine andere rechtliche Basis, hat eine
eigenständige Funktion, die früher mit dem Begriff des Vormundschaftswesens
bezeichnet wurde. Es geht im Wesentlichen um das Wohl der Menschen, aller
Menschen in der Schweiz, insbesondere von Kindern, für welche die Gemeinschaft
eine besondere Verantwortung hat, die sie mit dieser staatlichen Behörde
wahrnimmt. Die heutige Form ist das Ergebnis eines demokratisch legitimierten
Reformprozesses, der unter anderem auf Erkenntnissen über Mängel des vorigen
Systems in fachlicher Hinsicht, das heisst im Hinblick auf die
Problembearbeitung, durchgeführt wurde. Es liegt in der Kompetenz der Kesb,
dass sie zur Erfüllung ihrer Funktion Aufträge an Dienstleister erteilt, schon
deshalb weil sie mit ihren personellen Ressourcen nicht annähernd die zum Teil
intensiven, zum Teil langwierigen Interventionen in problematische
Familienverhältnisse durchführen könnte. Diese Aufträge gehen, davon gehe ich
jedenfalls aus, an qualifizierte Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Der Bedarf an
solchen Dienstleistungen ist enorm, und leider ein Ausdruck der Realität in den
Schweizer Familien. Das ist aber kein Wildwuchs und das sind auch keine
geldgierigen Haie, die sich in einem staatlichen Machtvakuum bereichern. Dass
es bessere und schlechtere Leistungserbringer gibt, ist eine Frage der Qualität
und der Qualitätskontrolle, die sich nicht am Preis einer Dienstleistung ablesen
lässt. Wenn schon, dann wäre wie überall eher ein Zusammenhang von einem höheren
Preis mit einer höheren Qualität zu erwarten. Fest steht, dass das in keinem
Fall ein einfacher Job ist. Ich möchte das an dieser Stelle einfach einmal
festhalten: Meine Kolleginnen und Kollegen in der Praxis der Sozialen Arbeit
sind hart arbeitende Menschen, die es mit schwierigen Problemen und zum Teil
mit schwierigen Menschen zu tun haben. Dass die Kesb im Moment diese
Qualitätskontrolle möglicherweise nicht in vollem Umfang wahrnehmen kann, ist
möglich, denn mit den schmalen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, müssen
viele Aufgaben bewältigt werden, nicht zuletzt die Systemumstellung. Wir
wissen, dass diese Systemumstellung nicht reibungslos verläuft, und dass es
diverse Kritikpunkte gibt, die zu bearbeiten sind. Alles andere wäre ein
Wunder, das sich zum Beispiel in der immer als Vorbild dargestellten freien
Wirtschaft auch nicht einstellt, wenn in einer Unternehmung ein tiefgreifender
Wandel stattfindet. Es gibt daher ein ganzes Heer von Beratern, die
Spezialisten für „Change-Prozesse“ sind, die gleichwohl auch dort niemals
reibungslos verlaufen.
Die Entscheidungen der Kesb über Massnahmen, die in einem
Fall getroffen werden müssen, haben Kostenfolgen, die zum Teil aus dem Budget
der Sozialhilfe zu bezahlen sind, also zu Lasten der Gemeinden gehen. Dass die
Gemeinden hier eine Form der Mitsprache einklagen, ist absolut verständlich und
legitim. Das ist das eigentliche Problem des Systems, das ja wohl ihr
Ausgangspunkt war. Bei genauerem Hinsehen ist es eine Frage der Koordination
und im Kern ein technisches Problem, wie sie bei solchen Systemwechseln immer
zu Tage treten, die auf unterschiedlichen, sachlichen Wegen zu bearbeiten sind. Dieses Problem wäre auf der technischen Ebene mit einfachen
Mitteln des Lastenausgleichs zu lösen, jedenfalls kein Grund das ganze System
und den Systemwechsel insgesamt in Frage zu stellen. Der Kanton Bern hat hier
beispielsweise vernünftige Lösungen anzubieten und umgesetzt, wie man z.B.
einer winzig kleinen Mitteilung am Rande im „Bund“ vom 26.9. entnehmen kann.
Also, was bleibt übrig von Ihrem sozialen Albtraum, von Ihrem
Sozial-Irrsinn? Ach ja, die Meinung eines Experten, von Pfarrer Ruch, der sich als
Spezialist für Nächstenliebe und angeblich biblische Menschenbilder oder aufgrund
welcher Qualifikation auch immer zu Sozialstaat, Fremdenfeindlichkeit und der
Lösung all unserer Probleme im Blick dazu äussern darf. Dieser Beitrag grenzt
ans Groteske und vielleicht haben Sie das ja gemeint mit dem Sozial-Irrsinn und
ich habe Sie nur falsch verstanden. Dieser angebliche Christ eröffnet uns, dass
das eigentliche Problem der Sozialstaat ist, der die Menschen (Bezüger und
Professionelle) einerseits dazu verführt, es sich bequem zu machen, und
andererseits Ausländerfeindlichkeit erzeugt, weil Ausländer durch die Sozialhilfe
unterstützt werden. Die famose Lösung wäre also, angeblich nach amerikanischem
Vorbild, den Einwanderern keine staatliche Unterstützung zukommen zu lassen.
Diejenigen, die es schaffen, sind willkommen und die anderen würden wieder
gehen. Die Integration würde in den USA sehr viel besser gelingen als in der
Schweiz. Wahnsinn! Wie kann man all das Wissen, das uns zur Verfügung steht
einfach komplett ignorieren? Selbst ein oberflächlicher Blick in die USA führt
diese Argumentation ad absurdum. Das Ausmass der Armut, des Rassismus, der
Gewalt, der Kriminalität insgesamt sind nicht nur nicht verschwunden oder
geringer als hierzulande, sondern das krasse Gegenteil ist der Fall. Glauben
Sie mir, Sie wünschen sich nicht das Ausmass der sozialen Probleme der USA für
die Schweiz. Das wäre dann eher ein sozialer Albtraum. Und ich persönlich wünsche
mir Pfarrer, die Jesus Christus wenigstens ansatzweise verstehen würden. Nur
zur Erinnerung: Seine Eckpfeiler sind bedingungslose Liebe, Barmherzigkeit,
Vergebung und Gnade, und zwar immer in der göttlichen Form und dann in der Menschen
möglichen. Deshalb beten Christen „wie im Himmel, so auf Erden“. Nächstenliebe
ist insofern ein menschlicher Ausdruck des bei Gott seins, eine christliche
Grundhaltung, nicht ein freiwilliges soziales Engagement, das im Ermessen jedes
einzelnen Individuums liegt. Die Augen vor dem Elend der Mitmenschen abzuwenden
und sogar Massnahmen vorzuschlagen, die sie erst so richtig ins Elend stürzen,
ist nicht der Weg, den Jesus lehrt. Fragen Sie Franziskus, wenn Sie mir nicht
glauben.
Also, lassen Sie uns mal versuchen in all diesem Irrsinn
wieder etwas Boden unter die Füsse zu bekommen. Die Soziale Arbeit ist im
Rahmen von demokratischen Gesellschaften weder aus persönlichem Gewinnstreben
noch aus persönlicher Bequemlichkeit entstanden, sondern aus der Tatsache, dass
diese Gesellschaften die Teilhabe des Volkes, also aller, als Leitidee und
grundlegende Wertebasis haben. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die
Zentralwerte dieser Gesellschaft, die aber zugleich grosse soziale Ungleichheit
und somit ungleiche Teilhabe und Benachteiligung strukturell hervorbringt. Der
Zusammenhang von Sozialstruktur und individueller Entwicklung ist ein
gesichertes Faktum. Dieser Zusammenhang existiert, ob das ein Pfarrer oder
Politiker oder Journalist wahrhaben will oder nicht. Die Soziale Arbeit
entsteht historisch aus dieser Spannung des demokratischen Universalprinzips
der „Teilhabe aller“ und den mit der Sozialstruktur dieser Gesellschaft
zusammenhängenden sozialen Problemen, die sich auf der Ebene von Individuen und
Gruppen zeigen. Die Entwicklung jedes einzelnen Menschen ist höchst
voraussetzungsvoll und kann daher auch scheitern, insbesondere unter den gegebenen
sozialstrukturellen Bedingungen. Die soziale Hilfe ist eine grosse
Errungenschaft, weil sie tiefstes materielles Elend verhindert, und weil sie
den betroffenen Individuen Unterstützung anbietet, Entwicklungen zu vollziehen
und Möglichkeiten zu ergreifen, die ihnen ohne diese Unterstützung nicht zugänglich
wären. Dies ist eine grosse Errungenschaft, weil auf diese Weise der Wert der Würde
jedes einzelnen Menschen als Massstab für Überlegungen zur sozialen
Gerechtigkeit handlungsleitend für die Politik und dieses spezialisierte
Funktionssystem der Sozialen Arbeit wird und in der gesellschaftlichen Praxis
institutionalisiert wird. Dies ist eine grosse Errungenschaft, weil damit ein
hinreichendes Mass an sozialer Sicherheit erzielt werden kann, das Menschen für
sich selbst und für das Zusammenleben brauchen. Dies ist eine grosse
Errungenschaft, weil damit ein wesentlicher Beitrag zum sozialen Frieden in
einer auf Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft geleistet wird. Dies ist eine
grosse Errungenschaft, weil damit der Anspruch, eine demokratische Gesellschaft
zu sein, mindestens ansatzweise eingelöst werden kann.
Also, wenn wir uns wirklich einig sind, wie Sie schreiben, dass
es sich beim sozialen Netz bzw. bei der Institutionalisierung sozialer Hilfe um
eine grosse und wertvolle Errungenschaft handelt, warum diffamieren Sie dann
dieses System mit unlauteren Mitteln und ohne auch nur ansatzweise zu
begreifen, wie dieses System funktioniert? Geht es wirklich nur um die Kosten,
die wir uns angeblich nicht leisten können? Ich gebe Ihnen eine andere Zahl,
nur so zum Nachdenken, weil 2.4 Milliarden sich ja kaum jemand wirklich
vorstellen kann, was das heisst. (Diese 2.4 Milliarden sind die Höhe der
Sozialhilfekosten von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen. Der Anteil der
Gemeinden beträgt übrigens 1.4 Milliarden). Im Kanton Solothurn, der normalerweise
in allen Statistiken in der Nähe des Schweizer Durchschnitts liegt, beträgt der
Nettoaufwand für die Sozialhilfe auf der Ebene der Gemeinden pro Einwohner/in
im Jahr 2011 292 Franken und liegt
damit unter dem Wert von 2006 (304 Franken). Heute liegt dieser Wert vermutlich
höher, weil tatsächlich die Ausgaben gestiegen sind in den letzten drei Jahren.
Es gibt hier aber widersprüchliche Angaben. Und die Gründe dafür müssen wir
sorgsam anschauen, das ist keine Frage. Das heisst aber, dass Sie all den
Wirbel wegen 300 Franken veranstalten, den die Sozialhilfe jeden Bewohner und
jede Bewohnerin auf Gemeindeebene im Jahr kostet. Das ist ungefähr so viel wie
jede Bewohnerin und jeder Bewohner im Monat für die Krankenkasse bezahlt. Hier
wie da zahlen wir nicht nur Leistungen für uns selbst, sondern wir zahlen
solidarisch für alle, damit alle, das meint das Wort Volk, einen möglichst
grossen Schutz und diejenigen, die einen Bedarf haben, eine möglichst gute und
das heisst in meinen Augen professionelle Hilfe geniessen. Dies ist in der Tat
eine wunderbare Umsetzung des demokratischen Grundwertes der Brüderlichkeit als
säkulare Umsetzung des christlichen Gedankens der Nächstenliebe, da Sie ja den
Pfarrer ins Spiel gebracht haben. Der Schluss daraus wäre, dass es sich die
reichen Schweizer und Schweizerinnen nicht leisten können für eine ihrer
grössten Errungenschaften 300 Franken im Jahr aufzubringen. Das muss mir dann
jemand genauer erklären. Um der Wahrheit die Ehre zu erweisen, die mir im
Gegensatz zu Ihnen am Herzen liegt, will ich nicht verschweigen, dass die
Aufwendungen für die soziale Wohlfahrt pro Einwohner/in auf Gemeindeebene (im
Kanton Solothurn) im Jahr 2010 990 Franken betrugen. Und auch die sind möglicherweise
mittlerweile ein wenig gestiegen. Das ist immer noch weit entfernt davon ein
Sozial-Irrsinn zu sein, geschweige denn, dass dies nicht finanzierbar wäre.
Wenn man eine der grössten Errungenschaften der Schweiz als Gegenwert bekommt.
Ein sehr grosser Anteil der Sozialhilfe geht übrigens in private Taschen von
Vermietern und Krankenkassen. Und ein weiterer Teil der Sozialhilfe, nämlich
derjenige der für die sogenannten „Working Poor“ ausgegeben wird, kommt dadurch
zustande, dass diese Menschen für Ihre Arbeit einen Lohn bekommen, mit dem Sie
Ihre Familie in diesem Land nicht ernähren können. Wenn Sie Material für eine
Skandalisierung brauchen, dann wäre das ein Tipp von mir.
Auf der anderen Seite, und damit komme ich zum Schluss,
stehen die Betroffenen, diejenigen die auf Hilfe angewiesen sind. Wissen Sie,
was es heissen würde, wenn Sie den Grundbedarf in der Schweiz auf 600 Franken
kürzen würden, wie es von der SVP in diese aberwitzige Debatte eingebracht wird?
Wissen Sie, was Sie mit diesem medialen Entrüstungssturm bei diesen Menschen
anrichten? Sie lösen existenzielle Ängste aus, sie lösen krankmachende
Spannungen aus und sie befördern damit Dynamiken, die dem sozialen Frieden
schaden und das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen
unterhöhlen. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Und das hat hohe Kosten zur
Folge, nicht nur monetäre. Gehört soziale Verantwortung eigentlich zum
Berufsethos von Journalisten?
Wabern, 26. September 2014