Was dieser Hilfesuchende verbrochen hat? Nun ja, er hat Hilfe gesucht. Das ist etwas, was bei einigen Menschen für mehr Empörung zu sorgen scheint, als ein Gewaltverbrechen. Diesen Eindruck hatte ich zumindest, als ich Anfang Juli im Zürcher Oberländer einen Artikel mit der Überschrift "Strafe gegen Walliseller IV-Rentner verschärft" las. Der Mann wurde für die Vergewaltigung seiner Verlobten zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seine IV-Rente hatte mit der Geschichte absolut nichts zu tun.
Dieses kuriose Rechtsempfinden prägt seit über zehn Jahren die politische Agenda unseres Landes: Hilfesuchende abzuwehren oder davor abzuschrecken, überhaupt Hilfe zu beantragen, ist das verbindende Leitmotiv von allen jüngeren Sozial-Reformen.
Dieser Kulturwandel zeigt Wirkung: Mittlerweile bezieht jeder sechste von der IV abgewiesene Versicherte zwei Jahre später Sozialhilfe. Wie viele es nach fünf Jahren sind, weiss man nicht. - Was daran liegen könnte, dass man es nicht wissen will. Und jeder sechste Mensch, der sich in unserem Land das Leben nimmt, tut dies, weil er keine Arbeit hat. Im Jahr 2000 war es gerademal jeder zehnte.
Beinahe abstrus wirken da die empörten Reaktionen auf die jüngste Forderung einer sich als christlich-demokratisch bezeichnenden Partei, Asylanten in die unbezahlte Zwangsarbeit zu schicken. Der Arbeitsversuch für IV-RentnerInnen und die Workfare-Programme für Sozialhilfebeziehende unter Androhung von Leistungskürzungen untergraben das Arbeitsrecht auf die selbe Weise und sind unlängst Realität. "Eingliederung vor Rente" und "Fördern und Fordern" lauten die Parolen. "Arbeit macht frei" wäre politisch inkorrekt. Was menschlich korrekt ist, ist nicht von Belang.
Was uns als Kampf gegen jene verkauft wird, die es angeblich nur auf unsere Brieftasche abgesehen haben, dient bei näherer Betrachtung nur der Degradierung des Menschen zu einer Legehenne, deren Wert und Daseinsberechtigung nicht von unveräusserlichen Grundrechten garantiert wird, sondern von der Anzahl und Grösse der Eier abhängt, die sie legen kann.
Anstatt unsere Meinung mittels Smartvote zu vermessen und dann jenem Kandidaten unsere Stimme zu geben, der sich dieser am besten anbiedert, sollten wir lieber kritisch hinterfragen, auf welchen Wegen und zu welchen Zwecken man unsere Meinung beeinflusst. Ich glaube, was wir am dringendsten brauchen, ist eine gesunde Selbstreflektion.
David Siems, selbstbestimmung.ch
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Hintergrund
Der obige Text sollte eigentlich im Strassenmagazin Surprise erscheinen. Anfang August wurde ich von der Redaktion angefragt, ob ich mich mit einem Gastbeitrag an der Sonderausgabe zu den National- und Ständeratswahlen beteiligen wolle. Diese würde dann in der Wandelhalle des Bundeshauses aufliegen. Das Thema des Beitrages würde "Was braucht die Schweiz?" lauten. Als mediengeile Schlampe verfasste ich natürlich sofort einen Text, in dem ich versuchte, eine Brücke zwischen der aktuellen Flüchtlingskrise und der Behindertenpolitik zu schlagen.
Etwa eine Woche nach Redaktionsschluss erhielt ich so zu sagen das "Gut zum Druck" mit einigen winzigen Korrekturen. weitere fünf Tage später kam dann plötzlich eine Mail mit dem Hinweis, dass mein Text noch einmal "markant" bearbeitet worden sei. Obwohl ich mich an die Vorgabe der Redaktion gehalten hatte, war der Text nun plötzlich zu gross. Von meinem Text war nicht mehr viel übrig. Eigentlich nur das übliche hilf- und substanzlose Rumgejammere, welches man so schon zichfach andernorts gehört und gelesen hat. Das hat mich denn auch ein wenig stutzig gemacht: Es waren just die provokativen Aussagen, die entfernt worden waren.
Ich reichte daraufhin einen Gegenvorschlag mit moderateren Kürzungen ein und erklärte, dass ich im Zweifelsfall lieber nicht im Surprise erscheinen möchte, als mit einem Text, der im Prinzip nichts aussagt und mein Profil schwächt. Nun erhielt ich die definitive Absage. Diesmal lautete die Begründung, dass mein Text "zu wenig fokussiert" sei.
Ich hatte das miese Gefühl, von der Redaktion zensiert worden zu sein. Dementsprechend hatte ich dann auch gar keine Lust, mir die fragliche Surprise-Ausgabe durchzulesen. Das hätte ich mal besser tun sollen. Dann hätte ich nämlich gemerkt, dass die Redaktion absolut ehrlich zu mir war: Der Künstler und Leiter des Zentrums für politische Schönheit, Philipp Ruch, wurde nämlich ebenfalls für ein Statement angefragt. Sein Beitrag war tatsächlich wesentlich kürzer und fokussierter als meiner. Er bestand nämlich nur aus folgenden zwei Sätzen:
"Tötet Roger Köppel! / Köppel Roger tötet!"
- Mal so nebenbei: Wäre es nicht einfacher und kostengünstiger, die bevorstehenden Wahlen abzusagen und die SVP gleich zur Siegerin zu erklären?
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Siehe auch
Trotz einer Lähmung wird Mohammed A. ausgeschafft
Strafe gegen Walliseller IV-Rentner verschärft
Nach IV-Nein: Jeder Sechste lebt von Sozialhilfe
Jeder siebte Suizid in der Schweiz wegen Arbeitslosigkeit
CVPler wollen Bargeld-Verbot und Arbeitszwang für Asylsuchende
Staatssender gibt Wahlempfehlungen ab
"Tötet Roger Köppel"