Freitag, 25. September 2015

Wahlen 2015: Was braucht die Schweiz?

Mohammed A. ist es mit seiner poliobedingten Gehbehinderung irgendwie gelungen, aus Eritrea in die Schweiz zu fliehen. In seiner Person vereinen sich gleich zwei Feindbilder, die in den letzten Jahren von JournalistInnen und PolitikerInnen aus sämtlichen grossen Parteien zielsicher kultiviert wurden. So verwundert es denn auch nicht, dass die Mitte Mai angekündigte Ausweisung dieses Mannes bei den LeserInnen von Newsnet nur zustimmende Reaktionen ausgelöst hat.

Was dieser Hilfesuchende verbrochen hat? Nun ja, er hat Hilfe gesucht. Das ist etwas, was bei einigen Menschen für mehr Empörung zu sorgen scheint, als ein Gewaltverbrechen. Diesen Eindruck hatte ich zumindest, als ich Anfang Juli im Zürcher Oberländer einen Artikel mit der Überschrift "Strafe gegen Walliseller IV-Rentner verschärft" las. Der Mann wurde für die Vergewaltigung seiner Verlobten zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seine IV-Rente hatte mit der Geschichte absolut nichts zu tun.

Dieses kuriose Rechtsempfinden prägt seit über zehn Jahren die politische Agenda unseres Landes: Hilfesuchende abzuwehren oder davor abzuschrecken, überhaupt Hilfe zu beantragen, ist das verbindende Leitmotiv von allen jüngeren Sozial-Reformen.

Dieser Kulturwandel zeigt Wirkung: Mittlerweile bezieht jeder sechste von der IV abgewiesene Versicherte zwei Jahre später Sozialhilfe. Wie viele es nach fünf Jahren sind, weiss man nicht. - Was daran liegen könnte, dass man es nicht wissen will. Und jeder sechste Mensch, der sich in unserem Land das Leben nimmt, tut dies, weil er keine Arbeit hat. Im Jahr 2000 war es gerademal jeder zehnte.

Beinahe abstrus wirken da die empörten Reaktionen auf die jüngste Forderung einer sich als christlich-demokratisch bezeichnenden Partei, Asylanten in die unbezahlte Zwangsarbeit zu schicken. Der Arbeitsversuch für IV-RentnerInnen und die Workfare-Programme für Sozialhilfebeziehende unter Androhung von Leistungskürzungen untergraben das Arbeitsrecht auf die selbe Weise und sind unlängst Realität. "Eingliederung vor Rente" und "Fördern und Fordern" lauten die Parolen. "Arbeit macht frei" wäre politisch inkorrekt. Was menschlich korrekt ist, ist nicht von Belang.

Was uns als Kampf gegen jene verkauft wird, die es angeblich nur auf unsere Brieftasche abgesehen haben, dient bei näherer Betrachtung nur der Degradierung des Menschen zu einer Legehenne, deren Wert und Daseinsberechtigung nicht von unveräusserlichen Grundrechten garantiert wird, sondern von der Anzahl und Grösse der Eier abhängt, die sie legen kann.

Anstatt unsere Meinung mittels Smartvote zu vermessen und dann jenem Kandidaten unsere Stimme zu geben, der sich dieser am besten anbiedert, sollten wir lieber kritisch hinterfragen, auf welchen Wegen und zu welchen Zwecken man unsere Meinung beeinflusst. Ich glaube, was wir am dringendsten brauchen, ist eine gesunde Selbstreflektion.

David Siems, selbstbestimmung.ch

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Hintergrund


Der obige Text sollte eigentlich im Strassenmagazin Surprise erscheinen. Anfang August wurde ich von der Redaktion angefragt, ob ich mich mit einem Gastbeitrag an der Sonderausgabe zu den National- und Ständeratswahlen beteiligen wolle. Diese würde dann in der Wandelhalle des Bundeshauses aufliegen. Das Thema des Beitrages würde "Was braucht die Schweiz?" lauten. Als mediengeile Schlampe verfasste ich natürlich sofort einen Text, in dem ich versuchte, eine Brücke zwischen der aktuellen Flüchtlingskrise und der Behindertenpolitik zu schlagen.

Etwa eine Woche nach Redaktionsschluss erhielt ich so zu sagen das "Gut zum Druck" mit einigen winzigen Korrekturen. weitere fünf Tage später kam dann plötzlich eine Mail mit dem Hinweis, dass mein Text noch einmal "markant" bearbeitet worden sei. Obwohl ich mich an die Vorgabe der Redaktion gehalten hatte, war der Text nun plötzlich zu gross. Von meinem Text war nicht mehr viel übrig. Eigentlich nur das übliche hilf- und substanzlose Rumgejammere, welches man so schon zichfach andernorts gehört und gelesen hat. Das hat mich denn auch ein wenig stutzig gemacht: Es waren just die provokativen Aussagen, die entfernt worden waren.

Ich reichte daraufhin einen Gegenvorschlag mit moderateren Kürzungen ein und erklärte, dass ich im Zweifelsfall lieber nicht im Surprise erscheinen möchte, als mit einem Text, der im Prinzip nichts aussagt und mein Profil schwächt. Nun erhielt ich die definitive Absage. Diesmal lautete die Begründung, dass mein Text "zu wenig fokussiert" sei.

Ich hatte das miese Gefühl, von der Redaktion zensiert worden zu sein. Dementsprechend hatte ich dann auch gar keine Lust, mir die fragliche Surprise-Ausgabe durchzulesen. Das hätte ich mal besser tun sollen. Dann hätte ich nämlich gemerkt, dass die Redaktion absolut ehrlich zu mir war: Der Künstler und Leiter des Zentrums für politische Schönheit, Philipp Ruch, wurde nämlich ebenfalls für ein Statement angefragt. Sein Beitrag war tatsächlich wesentlich kürzer und fokussierter als meiner. Er bestand nämlich nur aus folgenden zwei Sätzen:

"Tötet Roger Köppel! / Köppel Roger tötet!"


- Mal so nebenbei: Wäre es nicht einfacher und kostengünstiger, die bevorstehenden Wahlen abzusagen und die SVP gleich zur Siegerin zu erklären?

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Siehe auch


Trotz einer Lähmung wird Mohammed A. ausgeschafft

Strafe gegen Walliseller IV-Rentner verschärft

Nach IV-Nein: Jeder Sechste lebt von Sozialhilfe

Jeder siebte Suizid in der Schweiz wegen Arbeitslosigkeit

CVPler wollen Bargeld-Verbot und Arbeitszwang für Asylsuchende

Staatssender gibt Wahlempfehlungen ab

"Tötet Roger Köppel"

Donnerstag, 24. September 2015

Selbstcoaching: Wege zu mehr Unabhängigkeit und Lebensqualität

Selbst-Coaching


Unser Thema

Selbstcoaching ist eine Methode, um das eigene Leben vermehrt gemäss den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Für Frauen, die mit einer Behinderung leben oder als  Angehörige mitbetroffen sind, kann es dabei um die unterschiedlichsten Themen gehen: Selbstbestimmung,  Zusammenleben, Frei räume schaffen, körperliches und psychisches Wohlbefinden, Umgang mit hohen Anforderungen, Klärung von wichtigen Fragen im Beruf oder Alltag, Entscheidungsfindung... Die Palette an möglichen Themen ist so viel fältig wie das Leben.

Unsere Ziele

Mit Selbstcoaching finden wir heraus, was wir wirklich wollen und wie wir Ressourcen besser nutzen können. Unsere Ziele sind letztlich mehr Unhängigkeit, Achtsamkeit und Lebensqualität.

Wie wir arbeiten

Wir arbeiten im Plenum und in Kleingruppen. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf bewährten Methoden des Selbstcoaching, angewandt auf die von den Teilnehmerinnen gewünschten Themen.  Daneben bleibt Zeit für den Austausch mit anderen betroffenen Frauen in einer angenehmen Umgebung.

Wer ist angesprochen?

Angesprochen sind Frauen jeden Alters mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit sowie Frauen, die als Angehörige mitbetroffen sind (Mutter, Tochter,  Schwester, Partnerin). Die Art der Beeinträchtigung ist unerheblich, die Teilnehmer innen sollten jedoch selbstständig in einer Gruppe kommunizieren können.

Organisatorisches

Datum: 24.– 25. Oktober 2015
Beginn: Samstag, 10.30 Uhr
Ende: Sonntag, 16.00 Uhr
Ort: Seminarhotel Sempachersee 6207 Nottwil www.dasseminarhotel.ch

Kosten für das ganze Wochenende

im Einzelzimmer mit Dusche/WC: Fr. 260.–* / Fr. 310.–
im Doppelzimmer mit Dusche/WC:  Fr. 230.–* / Fr. 280.–
Nur Seminar 2 Tage, mit Mittagessen: Fr. 130.–* / Fr. 170.–

*Preis für Mitglieder von avanti donne / avanti girls

- Preis pro Person. Inbegriffen:  Kurskosten, Begrüssungskaffee   und Pausenverpflegungen, 1 Übernachtung mit Vollpension,   Mittagessen am Sonntag
- Kostenreduktion für Frauen mit kleinem Budget auf Anfrage   möglich (bitte Mail an die Kontaktstelle senden)
- Assistentinnen bezahlen den halben Preis

Unser Hotel

Das Seminarhotel liegt in unmittelbarer Nähe des Sempachersees und ist über Luzern oder Sursee bequem mit ÖV erreichbar. Die Hotelanlage ist modern gestaltet, bietet Viersterne-Komfort und rollstuhlgerechte Zimmer.

Anreise am Freitagabend

Es ist möglich, schon am Vorabend anzureisen. Eine zusätzliche Übernachtung mit Abendessen und Frühstück am Samstag kostet je nach Zimmertyp zwischen Fr. 120.– und 140.–

Anmeldebestätigung

Nach Eingang der Anmeldung erhalten Sie eine Bestätigung. Bei kurzfristiger Abmeldung (weniger als drei Wochen vor  Kurs beginn) erheben wir eine Bearbeitungsgebühr von Fr. 100.– (ausser im Krankheitsfall).

Leitung

Carmen Coleman, dipl. Coach Präsidentin avanti donne

Organisation / Co-Leitung

avanti donne, Angie Hagmann, Leiterin Kontaktstelle Alpenblickstrasse 15 8630 Rüti ZH Tel. 0848 444 888 (Normaltarif) Montag bis Donnerstag, 10 – 12 Uhr info@avantidonne.ch

Anmeldung

per Mail oder Tel. an obige Adresse   oder online über unsere Website www.avantidonne.ch (Kurse)

Sonntag, 20. September 2015

Irland: Protestierende fordern die Regierung dazu auf, sich für die Kürzungen zu rechtfertigen: "Wir werden unselbständig gemacht"

Antoinette Norris hat sich in den 18 Jahren, in denen sie ihre schwer behinderte Tochter gepflegt hat, zahlreiche Fähigkeiten erarbeitet. Aber mittlerweile hat sie das Gefühl, in der Zeit zurückversetzt worden zu sein.

"Wir machen Rückschritte", sagt die fünffache Mutter seufzend. "Vor vielen Jahren hat man zwar von Menschen mit Behinderungen gehört, sie aber niemals gesehen, weil sie vor der Gesellschaft versteckt worden sind. Das passiert jetzt wieder."

Sie spricht von ihrer Tochter Demi, die seit drei Wochen ohne eine Beschäftigung und ohne die für ihr Wohlbefinden notwendigen Therapien zu Hause festsitzt.

Demi hat das Cohen-Syndrom, ist kaum mobil, kann sich nicht verbal ausdrücken und benötigt Pflege rund um die Uhr. Sie besuchte die St. Michael's Special School in Ballymun, Dublin. Aber im April ist sie volljährig geworden und wurde daher auf das neue Schulsemester hin dem Erwachsenen-Service zugeteilt.

Als sie ihren Platz im Erwachsenenbildungs-Zentrum für Menschen mit Behinderung einnehmen wollte, gab es plötzlich keinen Transportdienst mehr für sie.

"Das Zentrum ist eine 45-minütige Busreise von uns entfernt und ich habe auch noch andere Kinder, darunter mein Jüngster, der autistisch ist. Daher kann ich Demi nicht selber dorthin bringen.", erklärt Antoinette.

Ein gemeinnütziger Fahrdienst, welcher über umgebaute Taxis verfügt, hat ihr ein Angebot gemacht. Aber die Gebühren würden sich auf 95 Euro pro Woche belaufen. "Ich bin eine alleinerziehende Mutter, die von Sozialhilfe lebt. Ich bin sehr gut im budgetieren, aber Wunder vollbringen kann ich nicht.", sagt sie.

Antoinette sagt, dass Demi ebenfalls Rückschritte macht. "Sie konnte selbständig auf die Toilette gehen, aber mittlerweile macht sie wieder in die Windeln. Sie braucht ihre Physiotherapie und ihre Logopädie und die Stimulation durch eine Gruppe. Ich muss dabei zusehen, wie sie sich Woche für Woche zurückentwickelt."

Antoinette und Demi standen gestern vor dem Regierungsgebäude und unterstützten eine kleine aber fest entschlossene Gruppe von Protestierenden der Behindertenorganisationen "Inclusion Ireland", "Centre for Independent Living" und dem "AT Network", welche die Regierung dazu auffordern, ihre Versprechungen einzulösen und das Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderungen zu reformieren.

Einige der Protestierenden haben die vorherige Nacht auf dem Fussweg campiert, um Taoiseach (Titel des irischen Regierungsoberhauptes) Enda Kenny vor dem Meeting seines Kabinetts empfangen zu können.

Ihr Ziel bestand darin, den Schmerz aufzuzeigen, der durch die Jahre der Leistungskürzungen in der Entlastungspflege, den Fahrdienstpauschalen und anderen Diensten verursacht wurde. Ausserdem wollte man ihn daran erinnern, dass das Regierungsprogramm den Wechsel hin zu einer subjektorientierten Finanzierung der Hilfestellungen für Menschen mit Behinderungen versprochen hat. Dies hätte den Betroffenen erlaubt, selber zu entscheiden, welche Unterstützung sie benötigen und wie sie das ihnen zur Verfügung gestellte Geld ausgeben möchten.

Die Nachricht, wonach 450 Mio Euro in den Umbau von Behindertenheimen investiert werden soll, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. "Das inkludierte Leben in der Gemeinschaft ist die zeitgemässe Wohnform, aber dafür ist kein Geld vorhanden, weil man es lieber in die stationäre Pflege steckt.", sagt die 62-jährige Ann Kennedy, die Mitochondriopathie hat und einen Rollstuhl benutzt.

"Die treiben Menschen, die selbstbestimmt leben könnten in die institutionalisierte Pflege. Diese ist unheimlich, ein Heim ist keine normale, natürliche Umgebung für jemanden, der an der Gesellschaft teilhaben und sein Leben geniessen möchte.

Wir wollen persönliche Assistenz, sodass wir selber bestimmen können, wann wir aufstehen, was wir machen und wie wir uns fortbewegen. Man schreibt uns vor, welche Art von Pflege wir bekommen und wann wir sie bekommen. Wir werden unselbständig gemacht."

Ann teilt ihre Behinderung und ihre Frustration mit ihrer Zwillingsschwester Margaret. Die beiden sind Stammgäste and Protestkundgebungen, an denen sie flotte pinke Hüte tragen, welche drapiert sind mit Bändchen und Blumen. Sie lassen sich von ihren Rollstühlen nicht zurückhalten.

"Ich weiss, dass wir sehr auffallen, wenn wir mit unseren Hüten und Plakaten protestieren, aber diese Situation zersetzt unsere Zuversichtlichkeit und unser Selbstwertgefühl", sagt Ann. "Es bringt dich dazu, dich wertlos zu fühlen."

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Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: Irish Examiner