Fürsprecher von Menschen mit Behinderung
zeigen kein Interesse für den utilitaristischen Professor Peter Singer. Das liegt daran, dass Singer die Ermordung von Neugeborenen mit Behinderung öffentlich gerechtfertigt hat.
In seinem Buch "Praktische Ethik" wog Singer die moralischen Rechtfertigungsgründe für die Euthanasie von behinderten Babies. Er schlussfolgerte, dass es in schweren Fällen, wie beispielsweise bei Kindern mit einem
offenen Rücken, sogar moralisch falsch sein könnte, das Kind nicht zu töten. Bei weniger schwerwiegenden Diagnosen, wie beispielsweise der
Bluterkrankheit, schlussfolgerte Singer, dass die Entscheidung für oder gegen die Tötung des Kindes davon abhängen sollte, wie sich dies auf das Glücksempfinden der Eltern auswirkt und ob diese vorhaben, ihr Kind durch ein anderes, nicht-behindertes zu "ersetzen":
"Wenn der Tod eines behinderten Kindes zur Geburt eines Kindes mit besseren Aussichten auf eine glückliches Leben führt, ist die Summe des Glückes grösser, wenn das behinderte Kind getötet wird. Der Verlust glücklicher Lebenszeit des ersten Kindes wird aufgewogen durch den Gewinn glücklicher Lebenszeit des zweiten Kindes. Wenn also die Tötung des hämophilen Kindes keine nachteiligen Effekte auf andere Menschen haben sollte, wäre es in der Gesamtsicht richtig, es zu töten."
Singers frühe Äusserungen zur Euthanasie von Menschen mit Behinderung führte zu Protesten gegen seine Vorlesungen während der 90er Jahre, und löste eine Kontroverse aus, als er die Professur für Bioethik an der Princeton-Universität erlangte. Seit damals hat Singer wenig getan, um seinen Leumund bei der Behindertenbewegung zu verbessern, da er immer wieder Interviews mit
kontroversen Ässerungen über die moralische Rechtfertigung für Kindsmord gegeben hat. Und er hat es nur noch schlimmer gemacht, als er verkündete,
dass er nicht bereit wäre ein Kind mit Down-Syndrom grosszuziehen, weil es ihn nicht glücklich machen würde ("Wenn ich wüsste, dass mein Kind sich voraussichtlich niemals zu einer Person entwickeln wird, die ich als mir ebenwürdig behandeln kann, würde meine Freude es grosszuziehen und es sich entwickeln zu sehen erheblich reduzieren"), und in dem er Rückfragen wie die folgende stellt:
"Die meisten Menschen denken, dass das Leben eines Hundes oder eines Schweins weniger wert ist als das Leben eines normalen menschlichen Wesens. Auf welcher Grundlage können diese Menschen behaupten, dass das Leben eines geistig hochgradig behinderten menschlichen Wesens mit einer intellektuellen Kapazität, die der eines Hundes oder Schweines unterlegen ist, so viel Wert ist wie das Leben eines normalen menschlichen Wesens?"
Diese Art von Zeug (
beständig wiederholt) hat bei einigen Menschen mit Behinderung den
nicht abwegigen Eindruck hinterlassen, dass Peter Singer, der womöglich prominenteste Ethiker der Welt, es vorziehen würde, wenn sie sterben würden. (Und unglücklicherweise hat Singer mit seinen widerwärtigen Ausführungen seine lobenswerten Anstrengungen untergraben, die er unternommen hat, um die Menschen für die
leidenden Kinder dieser Welt zu sensibilisieren. Für einen Utilitaristen scheint Singer nicht sehr viel über die "Utilität" (Nutzen) nachzudenken, die er erzeugt, wenn er seine Glaubwürdigkeit als Ethiker untergräbt, in dem er kaltschnäuzige und brandstiftende Kommentare über Menschen mit Behinderung von sich gibt.
Manch einer mag aus all diesen Gründen gedacht haben, Singer könnte Menschen mit Behinderung unmöglich noch mehr vor den Kopf stossen, oder dafür sorgen, dass er noch mehr wie ein Monster klingt.
Manch einer könnte sich da irren. Denn nun war Singer
Coautor eines Editorials der New York Times, in welchem er Vergewaltigungen von Menschen mit Behinderung moralisch zu verteidigen scheint.
Das Argument, welches Singer in seinem Times-Artikel ausführt, ist atemberaubend abstossend. Aber zunächst ist es wichtig den Fall zu verstehen, welchen er kommentiert hat. Es geht um den Fall von Anna Stubblefield, eine Philosophie-Professorin der Rutgers Universität, welche wegen sexuellen Missbrauchs ihres geistig behinderten Schülers zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Der Fall ist, gelinde gesagt,
extrem ungewöhnlich. Ihr Schüler D.J. ist ein mehrfachbehinderter 30-jähriger Mann mit Cerebralparese, der in seinem ganzen Leben noch nie ein Wort gesagt hat und nur durch Schreie und Zwitscher-Geräusche kommunizieren kann. Stubblefield war seine Privatlehrerin und benutzte eine
diskreditierte, pseudowissenschaftliche Technik um das zu interpretieren, was ihrer Ansicht nach komplexe Kommunikationsversuche von D.J. waren. Basierend auf ihren Interpretationen begann Stubblefield damit, Sex mit D.J. zu haben, für den sie während ihrer gemeinsamen Zeit romantische Gefühle entwickelte.
D.J.'s Familie war entsetzt feststellen zu müssen, dass Stubblefield, die D.J. angeblich dabei geholfen hat, höchst intelligente Botschaften zu formulieren, welche seine komplexe Gefühlswelt zeigten, in Tat und Wahrheit etwas getan hat, was sie als Missbrauch erachteten. Stubblefield beharrte darauf, dass D.J.'s Behinderung rein körperlich sei, dass er einen offenen Geist besässe und nur ein Mittel braucht, um sich ausdrücken zu können. D.J.'s Familie glaubte, dass seine geistigen Defizite ebenso schwerwiegend seien wie seine körperlichen und dass er deshalb genauso unfähig war, einer sexuellen Beziehung zuzustimmen wie ein Kind. Aufgrund der Strafanzeige der Familie wurde Stubblefield vor Gericht gestellt und verurteilt.
An dieser Stelle kommen wir zurück zu Peter Singer. Singer und Jeff McMahan, welcher Professor an der Oxford-Universität ist, argumentieren, dass Stubblefield's Verurteilung aus verschiedenen Gründen höchst ungerecht sei. Der zuständige Richter gestattete Stubblefield nicht, zu beweisen, dass D.J.'s kognitive Fähigkeiten gross genug waren, um kommunizieren und der sexuellen Beziehung zustimmen zu können. Man ging von vornherein davon aus, dass D.J. ein hilfloses Opfer sei, ohne diese Annahme irgendwie zu untermauern. Falls D.J.'s Fähigkeiten wirklich unterschätzt worden sein sollten, wie Stubblefield es behauptet und man diese Tatsache mit einer anerkannten Technik hätte beweisen können, dann hätte man ihn fragen können, ob er den sexuellen Handlungen zugestimmt hat oder nicht. Stattdessen unterstellte man ihm einzig aufgrund seiner Unfähigkeit zu sprechen, keine Stimme zu haben.
Das ist ein absolut vernünftiges Argument. Wie Singer und McMahan schreiben, stammt dieses Argument von Behindertenvertretern, deren Haltung zum Stubblefield-Fall nicht unbedingt dem entspricht, was man spontan annehmen würde. Während dem die Behindertenbewegung sich selbstverständlich darum bemüht, Menschen mit Behinderung vor sexuellem Missbrauch zu beschützen, ist man natürlich auch misstrauisch gegenüber Argumenten, welche die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung bedrohen, indem sie sie als zwangsläufig kindlich und Entscheidungsunfähig darstellen.
Einige meinen, dass das Urteil D.J. sogar erniedrigt, da es ihm weniger Menschsein zuspricht, als Stubblefield es tat.
Wenn Singer dabei geblieben wäre, dass man es Stubblefield hätte erlauben müssen, mehr Beweise zu präsentieren und dass man D.J.'s Wünsche mehr hätte respektieren müssen, so hätte sich sein Ansehen in der Behindertenbewegung vielleicht ein kleinwenig verbessert.
Stattdessen entschied er sich dafür, Stubblefield auf eine andere Weise zu verteidigen und damit eines seiner bisher abscheulichsten Argumente zu liefern: Es sei vielleicht gar nicht falsch, Menschen mit geistiger Behinderung zu vergewaltigen. Singer und McMahan schreiben:
"Wenn wir davon ausgehen, dass D.J. hochgradig geistig behindert ist, sollten wir einräumen, dass er nicht fähig ist, die Bedeutung einer sexuellen Beziehung zwischen zwei Menschen oder die Bedeutung von sexueller Gewalt zu verstehen. Diese Dinge sind sogar für Menschen mit normaler kognitiver Kapazität schwer nachzuvollziehen. In diesem Fall ist er nicht dazu in der Lage, ein fundiertes Einverständnis zu einer sexuellen Beziehung zu geben. In der Tat versteht er womöglich nicht mal das Konzept eines Einverständnisses an sich. Das schliesst nicht aus, dass Stubblefield im Unrecht angetan hat, aber es ist dadurch weniger klar, was dieses Unrecht konkret bedeutet. Es ist vernünftig anzunehmen, dass ihm diese Erfahrung Vergnügen bereitet hat; denn auch wenn er kognitiv eingeschränkt ist, so hätte er sich doch körperlich zur Wehr setzen können."
Denken wir sorgfältig darüber nach, was hier gesagt wurde. Bei diesem Argument gehen Singer und McMahan davon aus, dass D.J. schwer eingeschränkt ist. In ihren Augen bedeutet das, dass er intellektuell zu stark eingeschränkt ist, um zu verstehen, was ein Einverständnis bedeutet. Und weil er es nicht versteht, kann er es auch nicht verweigern. Und weil er sich auch körperlich nicht zur Wehr gesetzt hat, ist es vernünftig davon auszugehen, dass er eine gute Zeit hatte, weshalb es unklar ist, warum es schädlich sein soll, ihn für nicht-einvernehmlichen Sex zu benutzen.
Nochmals, sein wir uns im Klaren darüber, was die beiden da sagen: Wenn jemand geistig stark genug eingeschränkt ist, dann ist es möglicherweise in Ordnung, ihn zu vergewaltigen, solange er sich nicht zur Wehr setzt, da ein ausbleibender körperlicher Widerstand die Annahme rechtfertigt, dass er es geniesst, vergewaltigt zu werden. (Singer offeriert hier eine Variante seiner eigenen früheren Argumentation, mit der er
Sex mit Tieren verteidigte, da Singer glaubt, Menschen mit Behinderung und Tiere seien in Sachen ethische Analysen ein und dasselbe.) Bitte beachten Sie, dass seine Argumentation auch den sexuellen Missbrauch von Säuglingen rechtfertigt, die ebenfalls nicht fähig sind zu verstehen, was ein Einverständnis ist.
Die New York Times hat somit gerade eine philosophische Verteidigungsschrift für die Vergewaltigung von Menschen mit Behinderung publiziert und Peter Singer hat es - irgendwie - geschafft, einen neuen Tiefpunkt im Themenfeld Behinderung zu erreichen. (Eigentlich, um ganz genau zu sein, ein Argument, demzufolge es nicht klar ist, welcher Schaden entsteht, wenn man einen Menschen mit Behinderung vergewaltigt und die Schlussfolgerung daraus, dass nicht-einvernehmlicher Sex mit körperlich und geistig hilflosen Menschen gar keine Vergewaltigung ist, wenn die Opfer nicht wissen, was Einvernehmen überhaupt bedeutet.)
Singers saloppe Rationalisierung von sexuellem Missbrauch veranschaulicht, warum man sich dem Utilitarismus gar nicht erst anschliessen sollte. Utilitaristen sind peinlich genau und Spock-ähnlich im "durchrechnen" ihrer Prämissen, doch ihre unfehlbare Logik führt zwangsläufig zu schlichtweg grauenerregenden oder bizarren
Schlussfolgerungen, die total in Konflikt stehen mit den fundamentalsten moralischen Werten der Menschen. Utilitaristisches Denken kann dich dazu bringen daran zu glauben, dass es so etwas wie "gut" und "böse" gar nicht gibt, nur "besser" und "schlechter" (was bedeutet, dass sogar Völkermord nicht von Natur aus schlecht ist, sondern akzeptabel, wenn es die am wenigsten schlechte verfügbare Option in einer bestimmten Situation ist). Es kann zu der Annahme führen, dass es für ein Paar unmoralischer ist, kinderlos zu bleiben, als einen Obdachlosen im Seniorenalter im Schlaf zu ermorden (denn daran zu scheitern, ein potentiell glückliches, langes Leben zu kreieren ist schlimmer als jemandem seine unglückliche, kurze Restlebenszeit zu rauben). Wie Freddie deBoer aufzeigte, kann es dich zu der Annahme führen, dass du im "
Jim Crow"-Süden einen unschuldigen schwarzen Mann für ein Verbrechen in die Pfanne hauen und lynchen lassen solltest, wenn du damit den Groll der Weissen besänftigen und verhindern kannst, dass sie eine Welle von noch brutalerer Gewalt lostreten. Es kann dich auch dazu bringen,
Ausbeuterbetriebe und
Fabrik-Einstürze in Entwicklungsländern zu verteidigen. Aufgrund der Natur ihrer Prämissen kommen Utilitaristen ständig an dem Punkt an, an dem sie eine endlose Reihe an Unmenschlichkeiten als moralisch notwendig billigen. Es ist eine grässliche Philosophie, die dich zu brutalen und perversen Schlussfolgerungen führt und im allerschlimmsten Fall macht sie aus dir einen Peter Singer.
Ich denke an diesem Punkt ist niemand mehr von Singers Verhalten überrascht. Dennoch war es irgendwie unglücklich, dass er auf ein Argument für mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ein Argument folgen liess, welches bestreitet, dass ein Schaden entsteht, wenn man sie sexuell missbraucht. Aber er hat während seiner Karriere deutlich gezeigt, dass er sich nicht für die Konsequenzen der Dehumanisierung von Menschen interessiert. Wahrscheinlich ist es viel schockierender, dass man bei der New York Times entweder nicht realisiert hat, wie hier argumentiert wurde, oder das Gefühl hatte, dass diese Auseinandersetzung einen seriösen Beitrag zu Debatten über Einverständnis und Behinderung beisteuern würde. So oder so, die fortlaufende Präsenz Peter Singers im nationalen Dialog über Behinderung zeigt uns, wie weit der Weg zu einer Gesellschaft ist, in der Menschen wie D.J. ihre volle Menschlichkeit zugesprochen wird - von Staatsanwälten, wie auch von Philosophen.
Übersetzt aus dem Englischen von David Siems / Quelle der Nachricht: Current Affairs